Vor einiger Zeit fiel mir ein Artikel aus „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) 24/2010 in die Hände: ein Nachruf auf den arabischen Aufklärer Mohammed Abed al-Jabri (1936-2010), der unter anderem auf die philosophische Tradition des andalusischen Philosophen und Juristen Averroes (arabisch: Ibn Rushd, 1126-1198) zurückgreift. Sein Werk ist zudem von der poststrukturalistischen französischen Philosophie beeinflusst, insbesondere von Michel Foucaults (1926-1984) épistème-Konzept. (Episteme sind eine Art epochenspezifischer Vorstellungen, die der Wissensbildung wie ein logisches Unterbewusstsein vorauseilen.)
Für einen Menschen wie mich war der Artikel über al-Jabri hochinteressant:
Ich interessiere mich zum einen für Al Andaluz, das maurische Spanien: Von 711 bis 1492 waren Teile der Iberischen Halbinsel von Muslimen beherrscht. Juden, Christen und Muslime lebten dort lange Zeit weitgehend friedlich beisammen; gleichzeitig erlebte die Iberische Halbinsel eine kulturelle Blütezeit. Bekanntestes Beispiel hierfür ist wohl die Alhambra, ein Festungspalast in Granada:
Zum anderen habe ich ein starkes Interesse an Philosophie und Philosophie- bzw. Ideengeschichte. Dabei liegt einer meiner Interessensschwerpunkte auf der Philosophie der Aufklärung bzw. in der Zeit der Bürgerlichen Revolutionen in Europa. Zunehmend beginne ich auch, mich für die französische (Geschichts-)Philosophie des 20. Jahrhunderts zu interessieren, woran die Englische Literaturwissenschaft und einer meiner Dozenten in Geschichte nicht ganz unschuldig sind.
Al-Jabris vierbändiges Hauptwerk, das – in Anlehnung an Kant – „Die Kritik der arabischen Vernunft“ heißt, soll voraussichtlich dieses Jahr in englischer Übersetzung erscheinen. Auf Deutsch ist bislang eine Einführung erschienen (Mohammed Abed al-Jabri: Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung, Berlin 2009). Drei zentrale Thesen aus diesem Werk sind:
- Es gibt drei Wissensordnungen, die die Erkenntnis im islamisch geprägten Kulturraum vorstrukturieren: Zum ersten die Wissenschaft der religiösen Auslegung, in der Unbekanntes stets dem bereits Bekannten innerhalb des offenbarten Textes untergeordnet wird (bayan). Zweitens die naturwissenschaftliche Beweisführung, die eine Ableitung aus empirischen Daten ist und deren Pendant im christlichen Europa die Aufklärung und die naturwissenschaftlich geprägte Moderne ausgelöst hat (burhan). Drittens die mystische – und aus al-Jabris Sicht irrationale – Inspiration und Versenkung (irfan). Das zentrale Prinzip in diesen drei Bereichen ist al-Jabri zufolge die Nachahmung. Sie habe zur Stagnation des arabischen Denkens geführt.
- Die Quellen des Rechts in der arabischen Welt sind der Koran, die Sunna (d.h. das Leben und Vorbild des Propheten Mohammed), der Analogieschluss (qiyas), der Konsens der Gelehrten (jimaa) und die freie Rechtsfindung eines Gelehrten (qiyas).
In die Zeit des Aufstiegs der abbasidischen Dynastie (749-1258) in Arabien fällt das sogenannte „Zeitalter der Niederschrift“ (asr al-tadwin), in dem die Sunna kodifiziert wurde und die vier wichtigsten Rechtsschulen des Islam entstanden: Hanafiten, Malikiten, Schafiten und Hanbaliten. Mit der Kanonisierung wurde die Möglichkeit der freien Entscheidungsfindung durch Einzelne allerdings zunehmend begrenzt. Grammatik, Recht, Mystik und Rhetorik, insbesondere aber Theologie und Philosophie waren im arabisch-islamischen Kulturraum zudem nie unabhängig von der Politik. Al-Jabri arbeitet nun den ideologischen Anteil von Rechtsfindung, Geschichtsschreibung und Philosophie im Zeitalter der Kanonisierung heraus.
- Er entwickelt die These, wonach das aristotelische Denken in Al Andalus und Nordafrika durch Ibn Rushd (Averroes) wiedergeboren worden sei. Durch den Averroismus hat laut al-Jabri ein epistemologischer (= „wissenschaftsphilosophischer“ bzw. „erkenntnistheoretischer“) Bruch mit den theoretischen Denkformen stattgefunden, die im muslimischen Orient vorherrschend seien.
Ich würde mich freuen, wenn ich bei dem einen oder anderen Leser dieses kleinen Blogs ein Interesse an der islamisch-arabischen aufklärerischen Philosophie wecken könnte – denn im Gegensatz zur landläufigen „westlichen“ Meinung gab und gibt es islamisches Denken im Geiste der Aufklärung, auch wenn dieses Denken seine Wirkmächtigkeit ironischerweise insbesondere im christlichen Kulturraum entfaltete.
Den einführenden Aufsatz in al-Jabris Denken aus APuZ, den ich eingangs erwähnt habe, kann man sich unter http://www.bpb.de/publikationen/X6OD66,0,Arabische_Welt.html kostenlos als PDF herunterladen oder ihn online lesen.
Weiterführende Links:
http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-469/_nr-1012/i.html (ein Porträt al-Jabris von Sonja Hegasy)
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/972358/ (das Deutschlandradio Kultur zu al-Jabri)
http://begleitschreiben.twoday.net/stories/5710009/ (eher kritische Rezension von Gregor Keuschnig)
http://kritikderarabischenvernunft.wordpress.com (Blog des Philosophen Reginald Grünenberg zur deutschen Ausgabe; Grünenberg lieferte gemeinsam mit Sonja Hegasy das Vorwort für die deutsche Einführung)
Das klingt sehr interessant. Ist der rote Faden der Aufklärung dann irgendwann liegen geblieben? Wie sieht es heute mit der Aufklärung aus? Wie man so hört und liest, eher schlecht. Aber, hm, was berichten die Medien schon?
Schön, dass du dieses Thema auch interessant findest!
Zu deiner ersten Frage: Offenbar ja. In seinem „Becks Wissen“-Bändchen über Al Andalus schreibt der Romanistik-Professor Georg Bossong (Uni Zürich): „Noch bedauerlicher ist indessen, daß dieser Gigant der Philosophiegeschichte [Ibn Rushd bzw. Averroes, Anm. Jary] in seinem eigenen Kulturkreis keine Nachfolger hatte. Seine Ideen fielen im christlichen Abendland auf fruchtbaren Boden, sie haben in der Scholastik konstruktive Debatten ausgelöst; in der islamischen Zivilisation verhallten seine Worte ungehört. Was eine Saat hätte sein können, ging dort nicht auf; jahrhundertelang herrschte geistige Stagnation, wofür die Buchstabengläubigkeit gegenüber dem Koran die Hauptursache war. Ibn Rushds Idee einer allegorischen Interpretation schwieriger, mit der Vernunft unvereinbarer Koranstellen hätte schon früh zu einer Kritik des heiligen Buches führen können, wie sie im Judentum (mit Spinoza) und im Christentum (mit der Aufklärung) Jahrhunderte später zum Durchbruch kam“ (Georg Bossong: Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur, S. 97).
Al-Jabri – und das ist das Spannende – greift nun auf Averroes zurück – mit dem Ziel, das islamische Denken von innen heraus zu erneuern. (Hier ist er: ein wichtiger Ansatz zur Weiterführung der islamischen Aufklärung in der Nachfolge Ibn Rushds.) Das ist das Besondere an Al-Jabri, deshalb möchte ich sein philosophisches Werk kennen lernen. Denn ich denke, dass eine Erneuerung des islamischen Denkens „von außen“ bzw. durch den „Westen“ nicht gelingen kann und wegen der politischen Vorbehalte in der arabischen Welt gegenüber dem „Westen“ nicht einmal geschehen sollte, um auf fruchtbaren Boden fallen zu können. Und in der Tat: Al-Jabri wird in der arabisch-muslimischen Welt gehört und gelesen. Die arabische Originalausgabe seiner „Kritik der arabischen Vernunft“ „zirkuliert zwischen dem Maghreb und den Golfstaaten mit durchschnittlich 7000 verkauften Exemplaren pro Band […]. Das sind für arabische Verhältnisse außerordentlich hohe Auflagen- und Verkaufszahlen, zumal wenn man bedenkt, dass es sich um ein anspruchsvolles philosophisches Werk handelt“ (Vincent von Wroblewsky/Sarah Dornhof: Editorische Notiz. In: Mohammed Abed Al-Jabri, Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung, Berlin 2009, S. 25-27, hier S. 25).
Al-Jabri ist in Europa leider nach wie vor sehr unbekannt – eben weil er sich darauf konzentriert hat, eine Erneuerung des islamischen Denkens „von innen“ anzustoßen und die meisten Einladungen nach Europa abgelehnt hat. Es gab zwar offenbar mal einen Artikel über ihn in der „Zeit“ und jetzt gibt es ja wieder einen in APuZ, aber beide Publikationen sprechen ja nicht gerade den „Ottonormalbürger“ an. Doch ich als christliche Europäerin fände es gerade nach dem 11. September außerordentlich wichtig, Europäer (egal, ob christlich oder nicht) darauf hinzuweisen, dass es Erneuerungsbewegungen innerhalb des islamischen Denkens gibt. Das ist nun nicht unbedingt Aufgabe der islamischen aufklärerischen Philosophen – al-Jabri hat es meiner Meinung nach schon sehr richtig gesehen, dass es zunächst einmal darauf ankommt, dass man dort gehört wird, wo man dem Denken neue Impulse geben möchte. Aber es wäre meiner Meinung nach unsere Aufgabe als (einigermaßen aufgeklärte) Europäer, uns erst einmal genauer zu informieren, bevor wir Äußerungen von uns geben wie die, dass es (überhaupt) keine Aufklärung im Islam gab. Wie stark die Aufklärung als Denkströmung vorhanden war bzw. ist und Einfluss entfalten konnte bzw. kann, ist eine andere Frage.
Das wäre allerdings erst der zweite Schritt. Am wichtigsten wäre es aus meiner Sicht, dass „Islam“ zuallererst mal nicht mit „Islamismus“ gleichgesetzt wird und dass falsche Übersetzungen wie „Dschihad = Heiliger Krieg“ richtiggestellt werden. Das Wort „Dschihad“ (wörtlich: Anstrengung, Abmühen, Einsatz) verweist auf einen geistigen, gesellschaftlichen Einsatz und meint die Selbstaufopferung und die Opferung des eigenen Vermögens für Gott, während Krieg aus islamischer Sicht nie „heilig“ ist und selbst Verteidigungskriege als notwendiges Übel angesehen werden (vgl. Abdoldjavad Falaturi/Udo Tworuschka: Der Islam im Unterricht. Beiträge zur interkulturellen Erziehung in Europa (Beilage zu den Studien zur internationalen Schulbuchforschung. Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts, hg. v. Ernst Hinrichs), 2. Aufl., Braunschweig 1992, S. 43f.).
Das ist ja schon ein eigener Beitrag, ich bedanke mich herzlich für die weiterführenden Gedanken! Ich werde es aufmerksam verfolgen.
Bitte, bitte! Deine Fragen waren eben keine, die man mal eben in zwei Sätzen beantworten kann (bzw. für die man in zwei Sätzen Hinweise auf mögliche Antworten geben kann). 😉
Ich habe jetzt noch ein paar weiterführende Links zum Artikel hinzugefügt.