Einige Historiker haben die Angewohnheit, in ihren (in der Regel älteren) Werken von der Vergangenheit als „untergegangener Welt“ zu sprechen oder zumindest einen ähnlichen Begriff zu verwenden. Mir scheint so eine Bezeichnung meist zu pathetisch: Die Welt ist ja nicht untergegangen. Sie hat sich – aus unserer rückblickenden Perspektive – verändert; manchmal sehr stark, manchmal weniger stark.
Einer der Fälle, in denen auch ich einen so pathetischen Begriff verwende wie den einer „untergegangenen Welt“ ist die Epoche des „Fin de Siècle“: die Zeit gegen Ende des „langen 19. Jahrhunderts“, um die Jahrhundertwende und vor dem Ersten Weltkrieg. Mit Fortschritten in der Wissenschaft, der zunehmenden Technisierung und der Entstehung der modernen Massengesellschaft gingen einerseits Fortschrittsoptimismus und positive Zukunftserwartungen einher, andererseits aber auch Unsicherheit, Zukunftsangst und Endzeitstimmung.
Künstler – bildende, insbesondere aber auch Literaten – hatten das Bewusstsein davon, dass mit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Epoche unwiderruflich zu Ende ging. Eine Vielzahl von Kunstströmungen wandte sich gegen den Naturalismus und hin zu einer Überfeinerung der Sinne, zu Subjektivismus und Ästhetizismus. Diese Strömungen werden oft unter dem Begriff der „Décadence“ (frz. décadence = Verfall) zusammengefasst, da diese Überfeinerung der Sinne als Anzeichen eines kulturellen Verfalls gedeutet (und u.a. von Friedrich Nietzsche heftig kritisiert) wurde. Um es – wie so viele vor mir – etwas pathetisch zu formulieren: dies war eine „Welt im Bewusstsein ihres eigenen Untergangs“.
Zu den Künstlern der „Décadence“ bzw. des „Fin de Siècle“ zählen so unterschiedliche Menschen wie Paul Gauguin (Malerei, Postimpressionismus), Claude Debussy (Musik, Impressionismus) oder Rainer Maria Rilke (Literatur, Symbolismus).
Die gehäufte Verwendung von -ismen in diesem Beitrag soll allerdings nicht über die Individualität der Werke der genannten Künstler hinwegtäuschen.
Und warum nun dieser Beitrag?
Weil ich schon seit Langem etwas über „The Picture of Dorian Gray“ von Oscar Wilde schreiben möchte, der ebenfalls zu den Künstlern des „Fin de Siècle“ gehört – und dessen eigenes Leben und gesellschaftlicher Fall vielleicht so etwas wie ein Spiegelbild dieser „Zeit im Bewusstsein ihres eigenen Untergangs“ sind.