Die Sachsen-AfD, Preußen und der Föderalismus

Normalerweise gehöre ich nicht zu denjenigen FDP-Anhängern, die glauben, sie müssten der AfD irgendeine besondere Beachtung schenken. Die AfD vertritt zwar zum Teil wirtschaftspolitische Positionen, die auch die FDP für richtig hält, aber was gesellschaftliche Positionen betrifft, liegen doch Welten zwischen den Rechtskonservativen und den Liberalen. Aber genau darum – weil ich gesellschaftspolitisch liberal denke (und weil ich Geschichte studiere) – ist mir gestern so der Hut hochgegangen, als Christian Ehring in der heute-show diesen Auszug aus dem sächsischen AfD-Wahlprogramm vorgelesen hat:

„Schul- und insbesondere Geschichtsunterricht soll nicht nur ein vertieftes Verständnis für das historische Gewordensein der eigenen Nationalidentität, sondern auch ein positives Identitätsgefühl vermitteln. Wir wollen einen deutlichen Schwerpunkt auf das 19. Jahrhundert und die Befreiungskriege gesetzt wissen. Die Grundlagen unseres Staates wurden in den Jahren 1813, 1848 und 1871 gelegt.“
– AfD-Wahlprogramm Sachsen, Forderung IV.3.1. Aufwertung und Umgewichtung des Geschichtsunterrichts

Warum ist das gesellschaftspolitisch fragwürdig?

Weil die AfD mit dieser Forderung letztlich dazu beitragen will, das nationalistische Geschichtsbild des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918) fortzuschreiben. Danach sei das Heilige Römische Reich, das 1806 aufgelöst wurde, im Grunde schon nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs (Westfälischer Frieden 1648) dem Untergang geweiht gewesen. Erst durch den Aufstieg Brandenburg-Preußens im späten 17. und 18. Jahrhundert (Friedrich Wilhelm I., Friedrich II.) und die preußischen Reichseinheitsbestrebungen des 19. Jahrhunderts hätten die deutschen Lande wieder eine Zukunftsperspektive erhalten: den expansiven preußischen Militärstaat.

Dabei wird dieses preußisch geprägte Geschichtsverständnis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts von der deutschen Geschichtsforschung schon seit den 1950er und 1960er Jahren nicht mehr geteilt. Stattdessen wird betont, dass das Heilige Römische Reich keineswegs schon nach 1648 nicht mehr funktionierte. Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden die Reichsinstitutionen zunehmend lahmgelegt – und zwar nicht zuletzt durch die Blockadepolitik Brandenburg-Preußens im Reichstag: Streitfragen wurden von Brandenburg-Preußen seit Regierungsantritt Friedrichs II. von Preußen (1740) zunehmend zu Religionsfragen erklärt. Seit dem Westfälischen Frieden wurden diese getrennt von einem katholischen Gremium (Corpus Catholicorum, mit den Habsburgern) und einem evangelischen Gremium (Corpus Evangelicorum, mit Brandenburg-Preußen) beraten. Ein Beschluss kam bei dieser sogenannten itio in partes nur zustande, wenn sich die beiden Corpora einigten – was selten geschah. Fazit: Der Reichstag war faktisch ausmanövriert.

Warum das Ganze? Weil die größten Stände des Heiligen Römischen Reichs – allen voran Brandenburg-Preußen, aber auch das Haus Habsburg – sich zunehmend aus dem Reichsverband lösen wollten. Im Gegensatz zu den kleineren Reichsständen waren sie auf den Schutz durch das Reich nicht angewiesen und trachteten immer mehr danach, ihre eigene Landesherrschaft auszubauen und selbst möglichst stark zu werden.

Und nun muss man sich einfach ganz grundlegend die Frage stellen, ob man wollen kann, dass Kinder in der Schule lernen, der militaristische preußische Staat sei sozusagen das Vorbild für das heutige Deutschland gewesen. Ich möchte das nicht; es erzieht im Grunde zum Nationalismus und ist für Nicht-„Preußen“ eigentlich auch wenig ansprechend. Das kann doch politisch von keiner demokratischen Partei gewollt sein!

Vielleicht könnte stattdessen das Heilige Römische Reich mit seiner quasi-föderalen Struktur (Reichsstände, Reichskreise als Verteidigungsstruktur, Reichstag für untereinander abgestimmte Politik) stärker in den Mittelpunkt rücken. Dann würde auch die heutige föderale Struktur mit Bund und Ländern nicht als etwas Defizitäres erscheinen, als das ihn das preußische Geschichtsbild letztlich darstellt. Stattdessen würde sich zeigen, dass der heutige deutsche Föderalismus etwas in Mittelalter und Früher Neuzeit historisch Gewachsenes ist, das sich über alle Krisen und Kriege hinweg doch als erstaunlich funktionsfähig und langlebig erwiesen hat. Und vielleicht wäre das auch ein Vorbild für die EU: Wie wär’s mit einem EU-Parlament, das eine EU-Regierung wählt, und einer Länderkammer mit den Regierungen der einzelnen Staaten? Mit klar geregelten Zuständigkeiten? (O.k., dass die AfD das vielleicht nicht unbedingt möchte, kann ich mir denken. 😀 Ich fänd’s dagegen gut. Jedenfalls viel besser, als wenn die EU-Kommission von den Staatschefs bestimmt wird und das EU-Parlament im Grunde nur noch „abnicken“ darf. Denn das sehe ich als Demokratiedefizit.)

Als Einstiegsliteratur zu dem, was ich gerade geschrieben habe, möchte ich Franz Brendle, Das konfessionelle Zeitalter, Berlin 2010 (hier v.a. S. 57), und Albert Funk, Föderalismus in Deutschland, Bonn 2010, nennen. (Obwohl Funk die religiöse Dimension z.B. des Dreißigjährigen Kriegs mitunter unterschätzt. Wie bei Brendle nachzulesen ist, war dieser nicht nur ein verfassungspolitischer, sondern eben auch ein religiöser Konflikt.)

2 Responses to Die Sachsen-AfD, Preußen und der Föderalismus

  1. Davi sagt:

    Ich finde es cool, dass du dich auch hier auf der Seite mit Politik und Geschichte auseinandersetzt und ich hoffe, der Blog wird irgendwann auch weitergeführt ^^. Ich finde beide Themen nämlich interessant und schreibe auf meiner Website – wenn nicht gerade über Bücher 😀 – auch darüber (wobei ich nach meinem Geschichts-Abi leider sehr viel wieder vergessen habe :/).

    Davi

    • Jary sagt:

      Tja, ich kann eben auch nicht aus meiner Haut. 😉 Der Blog spiegelt einen großen Teil meiner Interessen wieder und Geschichte und Politik gehören eben definitiv dazu. Und ja, ich sollte mal wieder was posten… Vermutlich gibt es demnächst was zu einer meiner Lieblingsbands, Leaves‘ Eyes, aber die Shakespeare-Sache würde ich auch gerne mal weiterführen.

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