Kürzlich sah ich zusammen mit Freunden die Verfilmung des „Medicus“ von Noah Gordon im Kino. „Der Medicus“ läuft seit 25. Dezember 2013 und ist ein packendes Historienabenteuer, das mir sehr gefallen hat!
Zur Handlung: England, Anfang des 11. Jahrhunderts. Nach dem Tod seiner Mutter schließt sich der junge Rob Cole (Tom Payne) einem fahrenden Bader (Stellan Skarsgård) an, der ihn in sein Handwerk einführt, als er zunehmend das Augenlicht verliert. Schließlich überredet Rob den Bader, von jüdischen Heilern eine Starstich-Operation durchführen zu lassen, nach der er wieder sehen kann. Dabei erfährt er von Ibn Sina (latinisiert: Avicenna; Ben Kingsley), dem größten Medicus seiner Zeit. Daraufhin tritt Rob als Jude verkleidet die beschwerliche und lange Reise nach Isfahan an, um Ibn Sinas Schüler zu werden…
Es war wohl ganz gut, dass ich das Buch nicht vorher gelesen hatte, denn im Vergleich zur Romanvorlage The Physician (1986) wurden anscheinend zahlreiche Änderungen vorgenommen. So stirbt Rob Coles Mutter im Film an einer Blinddarmentzündung, während sie im Roman an Kindbettfieber stirbt, und Rob verliebt sich in die Jüdin Rebecca statt in die Christin Mary, die im Film gar nicht vorkommt. Doch die geänderte Storyline „funktioniert“; es ist ein unterhaltsamer und spannender Abenteuerfilm entstanden. Überragender Darsteller war Ben Kingsley als weiser Lehrer Ibn Sina.
Mit dem Thema Religion geht der Film recht ausgewogen um: Negativ dargestellt werden wissenschaftsfeindliche „Hardliner“ aller drei Religionen, die ihre religiösen Vorbehalte über die Menschlichkeit stellen: der christliche Priester, für den eine Behandlung von Robs sterbender Mutter „Zauberei“ und „ketzerisch“ wäre; der muslimische Mullah, der Rob und den eigentlich unbeteiligten Ibn Sina wegen der Sektion eines Parsen hinrichten lassen will; der jüdische Rabbi, der Robs große Liebe Rebecca (Emma Rigby) wegen Ehebruchs steinigen lassen will. Sie werden besonders im Fall der Juden und Muslime klar von den „normalen“ Gläubigen abgegrenzt.
Bewusst wählt Rob auch einen Parsen, um ihn zu sezieren und so eine Heilungsmöglichkeit für die „Seitenkrankheit“ (Blinddarmentzündung) zu finden, die schon seine Mutter dahingerafft hat: Der Parse glaubt im Gegensatz zu den anderen Religionsvertretern nicht, dass es irgendeine Bedeutung hat, was nach seinem Tod mit seiner sterblichen Hülle geschieht. Rob respektiert hier also die religiösen Vorstellungen eines Andersgläubigen. Er zeigt gewissermaßen religiöse Toleranz, bevor die von der Aufklärung geprägte ethische Toleranzvorstellung existierte (was den Machern des Films höchstwahrscheinlich nicht bewusst war, Robs Handeln aber nicht unplausibel macht).
Aus dramaturgischen Gründen greift der Film in die historischen Abläufe ein. So stirbt Ibn Sina z.B. nicht, wie historisch belegt, im Jahr 1037 mit Ende 50 an einer Magen-Darm-Erkrankung, sondern erlebt im Film mit Anfang 70 die Eroberung Isfahans durch die Seldschuken im Jahr 1051. Das kann man der Verfilmung aber kaum vorwerfen: Nach Aussage seines Autors Noah Gordon sollte schon der Roman keine Darstellung der historischen Realität sein, sondern ist eher als mittelalterliche Fantasy-Welt gedacht; dazu passt auch Robs Gabe, den nahenden Tod eines Menschen „spüren“ zu können. Und als Mittelalter-Fantasy mit historischer Grundierung funktioniert der Film ausgezeichnet!
Zum Abschluss muss trotzdem noch ein bisschen „nitpicking“ sein. Ich beschränke mich mal auf drei Stellen:
- Nach seiner Starstich-Operation sagt der Bader vor Glück weinend, er könne nun wieder sehen „wie als kleiner Junge“. Bei Starstich-Operationen wurde aber bis in die Frühe Neuzeit die getrübte Linse als Ganzes entfernt, woraus starke Weitsichtigkeit (ca. +11 Dioptrien) resultierte. Gut sehen konnte man danach also nicht, aber immerhin konnte man überhaupt wieder etwas sehen.
Wie realistisch es ist, dass jemand die im Film gezeigte Blinddarm-Operation überlebt, kann ich als Nicht-Medizinerin dagegen nicht beurteilen. Eigentlich gibt es die Behandlungsmethode, bei der der entzündete Wurmfortsatz abgetrennt wird, ja erst seit Ende des 19. Jahrhunderts; sie entstand also unter völlig anderen technischen und hygienischen Voraussetzungen. - Spätestens in dem Augenblick, als Rob das jüdische Tischgebet nicht sprechen konnte, wäre er als Nichtjude enttarnt gewesen. „So betet ihr also in England?“, hätte da sicher niemand gefragt. Das Tischgebet ist überall gleich. Mal ganz davon abgesehen, dass es nicht vor, sondern erst nach dem Essen gesprochen wird…
- Als Ibn Sina mit Rob eingekerkert ist, wirft er Rob vor, aus Erkenntnisdrang einen Leichnam geöffnet zu haben, statt nach einem langen eigenen Leben zu streben, um möglichst lange Menschen helfen zu können. Vom „echten“ Ibn Sina ist ein Ausspruch überliefert, wonach er ein kurzes, erfülltes Leben einem langen, ereignislosen vorzog.
Aber, wie schon gesagt: Ein toller, spannender Abenteuerfilm! Sehenswert. Macht Lust, auch den Roman zu lesen.