Die Sachsen-AfD, Preußen und der Föderalismus

6. September 2014

Normalerweise gehöre ich nicht zu denjenigen FDP-Anhängern, die glauben, sie müssten der AfD irgendeine besondere Beachtung schenken. Die AfD vertritt zwar zum Teil wirtschaftspolitische Positionen, die auch die FDP für richtig hält, aber was gesellschaftliche Positionen betrifft, liegen doch Welten zwischen den Rechtskonservativen und den Liberalen. Aber genau darum – weil ich gesellschaftspolitisch liberal denke (und weil ich Geschichte studiere) – ist mir gestern so der Hut hochgegangen, als Christian Ehring in der heute-show diesen Auszug aus dem sächsischen AfD-Wahlprogramm vorgelesen hat:

„Schul- und insbesondere Geschichtsunterricht soll nicht nur ein vertieftes Verständnis für das historische Gewordensein der eigenen Nationalidentität, sondern auch ein positives Identitätsgefühl vermitteln. Wir wollen einen deutlichen Schwerpunkt auf das 19. Jahrhundert und die Befreiungskriege gesetzt wissen. Die Grundlagen unseres Staates wurden in den Jahren 1813, 1848 und 1871 gelegt.“
– AfD-Wahlprogramm Sachsen, Forderung IV.3.1. Aufwertung und Umgewichtung des Geschichtsunterrichts

Warum ist das gesellschaftspolitisch fragwürdig?

Weil die AfD mit dieser Forderung letztlich dazu beitragen will, das nationalistische Geschichtsbild des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918) fortzuschreiben. Danach sei das Heilige Römische Reich, das 1806 aufgelöst wurde, im Grunde schon nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs (Westfälischer Frieden 1648) dem Untergang geweiht gewesen. Erst durch den Aufstieg Brandenburg-Preußens im späten 17. und 18. Jahrhundert (Friedrich Wilhelm I., Friedrich II.) und die preußischen Reichseinheitsbestrebungen des 19. Jahrhunderts hätten die deutschen Lande wieder eine Zukunftsperspektive erhalten: den expansiven preußischen Militärstaat.

Dabei wird dieses preußisch geprägte Geschichtsverständnis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts von der deutschen Geschichtsforschung schon seit den 1950er und 1960er Jahren nicht mehr geteilt. Stattdessen wird betont, dass das Heilige Römische Reich keineswegs schon nach 1648 nicht mehr funktionierte. Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden die Reichsinstitutionen zunehmend lahmgelegt – und zwar nicht zuletzt durch die Blockadepolitik Brandenburg-Preußens im Reichstag: Streitfragen wurden von Brandenburg-Preußen seit Regierungsantritt Friedrichs II. von Preußen (1740) zunehmend zu Religionsfragen erklärt. Seit dem Westfälischen Frieden wurden diese getrennt von einem katholischen Gremium (Corpus Catholicorum, mit den Habsburgern) und einem evangelischen Gremium (Corpus Evangelicorum, mit Brandenburg-Preußen) beraten. Ein Beschluss kam bei dieser sogenannten itio in partes nur zustande, wenn sich die beiden Corpora einigten – was selten geschah. Fazit: Der Reichstag war faktisch ausmanövriert.

Warum das Ganze? Weil die größten Stände des Heiligen Römischen Reichs – allen voran Brandenburg-Preußen, aber auch das Haus Habsburg – sich zunehmend aus dem Reichsverband lösen wollten. Im Gegensatz zu den kleineren Reichsständen waren sie auf den Schutz durch das Reich nicht angewiesen und trachteten immer mehr danach, ihre eigene Landesherrschaft auszubauen und selbst möglichst stark zu werden.

Und nun muss man sich einfach ganz grundlegend die Frage stellen, ob man wollen kann, dass Kinder in der Schule lernen, der militaristische preußische Staat sei sozusagen das Vorbild für das heutige Deutschland gewesen. Ich möchte das nicht; es erzieht im Grunde zum Nationalismus und ist für Nicht-„Preußen“ eigentlich auch wenig ansprechend. Das kann doch politisch von keiner demokratischen Partei gewollt sein!

Vielleicht könnte stattdessen das Heilige Römische Reich mit seiner quasi-föderalen Struktur (Reichsstände, Reichskreise als Verteidigungsstruktur, Reichstag für untereinander abgestimmte Politik) stärker in den Mittelpunkt rücken. Dann würde auch die heutige föderale Struktur mit Bund und Ländern nicht als etwas Defizitäres erscheinen, als das ihn das preußische Geschichtsbild letztlich darstellt. Stattdessen würde sich zeigen, dass der heutige deutsche Föderalismus etwas in Mittelalter und Früher Neuzeit historisch Gewachsenes ist, das sich über alle Krisen und Kriege hinweg doch als erstaunlich funktionsfähig und langlebig erwiesen hat. Und vielleicht wäre das auch ein Vorbild für die EU: Wie wär’s mit einem EU-Parlament, das eine EU-Regierung wählt, und einer Länderkammer mit den Regierungen der einzelnen Staaten? Mit klar geregelten Zuständigkeiten? (O.k., dass die AfD das vielleicht nicht unbedingt möchte, kann ich mir denken. 😀 Ich fänd’s dagegen gut. Jedenfalls viel besser, als wenn die EU-Kommission von den Staatschefs bestimmt wird und das EU-Parlament im Grunde nur noch „abnicken“ darf. Denn das sehe ich als Demokratiedefizit.)

Als Einstiegsliteratur zu dem, was ich gerade geschrieben habe, möchte ich Franz Brendle, Das konfessionelle Zeitalter, Berlin 2010 (hier v.a. S. 57), und Albert Funk, Föderalismus in Deutschland, Bonn 2010, nennen. (Obwohl Funk die religiöse Dimension z.B. des Dreißigjährigen Kriegs mitunter unterschätzt. Wie bei Brendle nachzulesen ist, war dieser nicht nur ein verfassungspolitischer, sondern eben auch ein religiöser Konflikt.)


Der Medicus (Verfilmung)

4. Januar 2014

Kürzlich sah ich zusammen mit Freunden die Verfilmung des „Medicus“ von Noah Gordon im Kino. „Der Medicus“ läuft seit 25. Dezember 2013 und ist ein packendes Historienabenteuer, das mir sehr gefallen hat!

Der Medicus (Filmplakat)Zur Handlung: England, Anfang des 11. Jahrhunderts. Nach dem Tod seiner Mutter schließt sich der junge Rob Cole (Tom Payne) einem fahrenden Bader (Stellan Skarsgård) an, der ihn in sein Handwerk einführt, als er zunehmend das Augenlicht verliert. Schließlich überredet Rob den Bader, von jüdischen Heilern eine Starstich-Operation durchführen zu lassen, nach der er wieder sehen kann. Dabei erfährt er von Ibn Sina (latinisiert: Avicenna; Ben Kingsley), dem größten Medicus seiner Zeit. Daraufhin tritt Rob als Jude verkleidet die beschwerliche und lange Reise nach Isfahan an, um Ibn Sinas Schüler zu werden…

Es war wohl ganz gut, dass ich das Buch nicht vorher gelesen hatte, denn im Vergleich zur Romanvorlage The Physician (1986) wurden anscheinend zahlreiche Änderungen vorgenommen. So stirbt Rob Coles Mutter im Film an einer Blinddarmentzündung, während sie im Roman an Kindbettfieber stirbt, und Rob verliebt sich in die Jüdin Rebecca statt in die Christin Mary, die im Film gar nicht vorkommt. Doch die geänderte Storyline „funktioniert“; es ist ein unterhaltsamer und spannender Abenteuerfilm entstanden. Überragender Darsteller war Ben Kingsley als weiser Lehrer Ibn Sina.

Mit dem Thema Religion geht der Film recht ausgewogen um: Negativ dargestellt werden wissenschaftsfeindliche „Hardliner“ aller drei Religionen, die ihre religiösen Vorbehalte über die Menschlichkeit stellen: der christliche Priester, für den eine Behandlung von Robs sterbender Mutter „Zauberei“ und „ketzerisch“ wäre; der muslimische Mullah, der Rob und den eigentlich unbeteiligten Ibn Sina wegen der Sektion eines Parsen hinrichten lassen will; der jüdische Rabbi, der Robs große Liebe Rebecca (Emma Rigby) wegen Ehebruchs steinigen lassen will. Sie werden besonders im Fall der Juden und Muslime klar von den „normalen“ Gläubigen abgegrenzt.
Bewusst wählt Rob auch einen Parsen, um ihn zu sezieren und so eine Heilungsmöglichkeit für die „Seitenkrankheit“ (Blinddarmentzündung) zu finden, die schon seine Mutter dahingerafft hat: Der Parse glaubt im Gegensatz zu den anderen Religionsvertretern nicht, dass es irgendeine Bedeutung hat, was nach seinem Tod mit seiner sterblichen Hülle geschieht. Rob respektiert hier also die religiösen Vorstellungen eines Andersgläubigen. Er zeigt gewissermaßen religiöse Toleranz, bevor die von der Aufklärung geprägte ethische Toleranzvorstellung existierte (was den Machern des Films höchstwahrscheinlich nicht bewusst war, Robs Handeln aber nicht unplausibel macht).

Aus dramaturgischen Gründen greift der Film in die historischen Abläufe ein. So stirbt Ibn Sina z.B. nicht, wie historisch belegt, im Jahr 1037 mit Ende 50 an einer Magen-Darm-Erkrankung, sondern erlebt im Film mit Anfang 70 die Eroberung Isfahans durch die Seldschuken im Jahr 1051. Das kann man der Verfilmung aber kaum vorwerfen: Nach Aussage seines Autors Noah Gordon sollte schon der Roman keine Darstellung der historischen Realität sein, sondern ist eher als mittelalterliche Fantasy-Welt gedacht; dazu passt auch Robs Gabe, den nahenden Tod eines Menschen „spüren“ zu können. Und als Mittelalter-Fantasy mit historischer Grundierung funktioniert der Film ausgezeichnet!

Zum Abschluss muss trotzdem noch ein bisschen „nitpicking“ sein. Ich beschränke mich mal auf drei Stellen:

  • Nach seiner Starstich-Operation sagt der Bader vor Glück weinend, er könne nun wieder sehen „wie als kleiner Junge“. Bei Starstich-Operationen wurde aber bis in die Frühe Neuzeit die getrübte Linse als Ganzes entfernt, woraus starke Weitsichtigkeit (ca. +11 Dioptrien) resultierte. Gut sehen konnte man danach also nicht, aber immerhin konnte man überhaupt wieder etwas sehen.
    Wie realistisch es ist, dass jemand die im Film gezeigte Blinddarm-Operation überlebt, kann ich als Nicht-Medizinerin dagegen nicht beurteilen. Eigentlich gibt es die Behandlungsmethode, bei der der entzündete Wurmfortsatz abgetrennt wird, ja erst seit Ende des 19. Jahrhunderts; sie entstand also unter völlig anderen technischen und hygienischen Voraussetzungen.
  • Spätestens in dem Augenblick, als Rob das jüdische Tischgebet nicht sprechen konnte, wäre er als Nichtjude enttarnt gewesen. „So betet ihr also in England?“, hätte da sicher niemand gefragt. Das Tischgebet ist überall gleich. Mal ganz davon abgesehen, dass es nicht vor, sondern erst nach dem Essen gesprochen wird…
  • Als Ibn Sina mit Rob eingekerkert ist, wirft er Rob vor, aus Erkenntnisdrang einen Leichnam geöffnet zu haben, statt nach einem langen eigenen Leben zu streben, um möglichst lange Menschen helfen zu können. Vom „echten“ Ibn Sina ist ein Ausspruch überliefert, wonach er ein kurzes, erfülltes Leben einem langen, ereignislosen vorzog.

Aber, wie schon gesagt: Ein toller, spannender Abenteuerfilm! Sehenswert. Macht Lust, auch den Roman zu lesen.


Büchners „Dantons Tod“ in den Münchner Kammerspielen – Teil 2

1. Januar 2014

Das „Büchnerjahr“ 2013 durfte nicht zu Ende gehen, ohne von mir bei einem Theaterbesuch zelebriert zu werden. Georg Büchners (1813-1837) „Dantons Tod“ (1835) habe ich am 29. Dezember 2013 in einer Bearbeitung von Matthias Günther und Tobias Staab in den Münchner Kammerspielen gesehen. Nachdem ich meine eigene Interpretation des Dramas vorausgeschickt habe (Teil 1), möchte ich nun meine Eindrücke von der Inszenierung wiedergeben (Teil 2).

Die beiden Dramaturgen Günther und Staab haben dem ohnehin schon mehrschichtigen Dramentext, in den Büchner Quellen aus der Zeit der Französischen Revolution einmontiert hat, noch weitere Textlagen hinzugefügt. So weist schon der eingangs von einem der Präsidenten des Revolutionstribunals, Herman (Hans Kremer), gesprochene Text darauf hin, in welchem Sinne man das Stück interpretiert wissen möchte: als Drama über die conditio humana, über die Bedingungen des Menschseins und die „Natur“ bzw. das „Wesen“ des Menschen. Diese Perspektive zieht sich durch praktisch alle hinzumontierten Textpassagen und findet ihren Kulminations- und Schlusspunkt darin, dass Robespierre (Wolfgang Pregler) als seine „Letzte[n] Worte“ auf der Bühne den Schluss des Romans „Elementarteilchen“ (Les particules élémentaires, 1998) des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq zitiert, das mit dem pathetischen Satz endet: „Dieses Buch ist dem Menschen gewidmet“ (S. 357). Ein Satz, den man angesichts der Handlung sowohl des Dramas als auch des Romans (der, kurz gesagt, die Selbstabschaffung des Menschen durch die Gentechnik zum Thema hat) wohl nur ironisch verstehen kann. Allerdings als doppelte Ironie, die sich selbst auflöst: Michel Houellebecqs doppelbödige Erzählweise entlarvt durch innere Widersprüche die menschenverachtende Ideologie seines personalen Erzählers Michel, der das Glück der Menschheit im Ende seiner natürlichen Reproduktion sieht, und liefert damit letztlich doch ein echtes Plädoyer für den (nicht gentechnisch veränderten) Menschen. Ebenso selbstentlarvend menschenverachtend ist für die Dramaturgen das Gerede Robespierres (z.B. „Die Revolutionsregierung ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei“, I,3)  und St. Justs (v.a. seine Rechtfertigung des terreur in II,7: „Die Schritte der Menschheit sind langsam, man kann sie nur nach Jahrhunderten zählen; hinter jedem erheben sich die Gräber von Generationen. Das Gelangen zu den einfachsten Erfindungen und Grundsätzen hat Millionen das Leben gekostet, die auf dem Wege starben. Ist es denn nicht einfach, daß zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr Menschen außer Atem kommen?“). Auch ex negativo und mittels einer intertextuellen Analogie lässt sich Büchners Drama also als Plädoyer für Menschlichkeit deuten. Bestätigt wird diese Interpretation durch den ausdrücklichen Überdruss der gemäßigten Jakobiner am Töten, etwa durch Héraults Reden gegenüber seinen Freunden („Die Revolution muß aufhören, und die Republik muß anfangen“, etc., I,1 – bei den Münchner Kammerspielen, wenn ich mich recht erinnere, Lacroix zugewiesen, da Hérault gestrichen wurde). Ob dieses Additum wirklich nötig gewesen wäre? Ob es außerdem nötig gewesen wäre, dass sich Robespierre nackt auszieht, während er spricht – der Mensch in seiner physischen Verletzlichkeit – und den Theaterbesucher so noch mit der Nase auf diese Deutung stößt?

Die Nacktheit des kleinbürgerlichen Tyrannen auf der Bühne erinnerte mich an Bert Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (1941) in der aktuellen Inszenierung des Berliner Ensembles, in der sich Arturo Ui a.k.a. Adolf Hitler auch einmal nackt auf der Bühne befindet. Ebenso intonierte Pregler Robespierres Monolog nach der Konfrontation mit Danton (Pierre Bokma) in I,6 im Stil einer grotesk-komischen Hitlerrede bzw. einer Rede Arturo Uis – ein weiterer intertextueller Bezug. Überhaupt scheint sich die Inszenierung stark an Brechts epischem Theater zu orientieren, als dessen Vorläufer vor allem Büchners „Woyzeck“ gilt: Die fiktionale Realität auf der Bühne wird schon von Anfang an durchbrochen. Kein Vorhang wird betätigt, nie erfolgt ein Szenenwechsel durch Veränderung des Bühnenbilds, es gibt kaum Auf- und Abtritte. Die Dantonisten sprechen oft in Anwesenheit der Robespierristen und umgekehrt. Das Bühnenbild selbst ist stilvoll: eine mit Kerzen geschmückte lange Tafel, an deren Ende ein Streicher-Ensemble sitzt, das während der gesamten Aufführung für Live-Musik sorgt (komponiert von Carl Oesterhelt).  Abwechslung erzeugen die Leinwände an der hinteren Bühnenwand, auf die zum einen szenenweise Schwarzweißbilder einer Kamera projiziert werden, die auf einem sich drehenden Tisch in der Mitte der Tafel liegt. Zum anderen werden so Stimmungen oder Vorstellungswelten der Charaktere ausgedrückt, z.B. Sommer oder Winter oder auch Dantons Frau Julie (Anna Drexler), die sich angesichts der Verhaftung und bevorstehenden Exekution Dantons auf eine blühende Sommerwiese fortträumt. Verfremdungseffekte entstehen auch, wenn einzelne Passagen erst im französischen Original und dann auf Deutsch gesprochen werden oder wenn der Bürger Simon (Benny Claessens) zuweilen statt gesprochener Passagen linksradikale Lieder singt („Totgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat!“, I,2). Herman erhält eine Doppelfunktion als Revolutionsrichter und fast schon allwissender Erzähler, der historische Erläuterungen zur Revolution und den Septembermorden liefert und in der eigentlich monologischen Flucht-Szene (II,4) als Freud-Verschnitt einen fast schon psychoanalytischen Dialog mit Danton führt, der keine Lust zu fliehen hat. St. Just wird von einer Schauspielerin gespielt (Annette Paulmann) – so weit, so gut, wird doch auch der „echte“ Saint-Just von Zeitgenossen als attraktiver, androgyn wirkender junger Mann beschrieben. Allerdings kann man Annette Paulmann in Kleid und Highheels nun wirklich nicht als androgyn bezeichnen; im Gegenteil erscheint sie so als Verkörperung der Marianne, wie in Delacroix’ berühmten Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ (La Liberté guidant le peuple, 1830). Grotesk  wird es allerdings, wenn St Justs große Hetzrede (II,7) zum Gespräch mit Lucile (Marie Jung) wird, die ihm gegenübersitzt, und bruchlos in Olympe de Gouges’ „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ (Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne, 1791) übergleitet und vor allem aus der Vorrede, aber auch aus den Artikeln zitiert: „Die Frau hat das Recht das Schafott zu besteigen; sie muss gleichermaßen das Recht haben, die [Redner-]Tribüne zu besteigen“ (Art. 10). Von derlei politischen und nach Auffassung vieler Zeitgenossen „unweiblichen“ Vorstellungen hielt auch Saint-Just nichts – ganz zu schweigen davon, dass Olympe de Gouges den gemäßigten Girondisten nahestand. Schade fand ich, dass die „volksverhetzende“ Dimension der Rede dadurch abgemildert wurde (falls die Intention gewesen sein sollte, auf die Radikalität auch der Forderungen der Olympe de Gouges in ihrer Zeit hinzuweisen, kam das bei mir jedenfalls nicht an). Auch Dantons Nihilismus und sein Wunsch, durch Selbstauslöschung Ruhe zu finden, wirkten in dieser Inszenierung merklich gedämpft. Dies lag zum einen wohl daran, dass die Figur des Philippeau als gläubiger Gegenpol zum Atheisten Danton gestrichen worden war und passte zum anderen wohl nicht recht in die Interpretation Günthers und Staabs, die das Drama durch hinzugefügte Texte bis zu einem Bericht von der Ermordung Robespierres weiterführten, statt es mit der Hinrichtung der gemäßigten Jakobiner und Luciles selbstmörderischem „Es lebe der König! (IV,9)“ enden zu lassen. (Übrigens glaube ich entgegen Camilles Deutung in IV,5 nicht, dass es wirklich der Wahnsinn ist, der aus Lucile spricht, sondern eher der tragische Wunsch, ohne ihren Liebsten Camille nicht leben zu können und zu wollen. Im Gegensatz zu Dantons Frau Julie, die eigentlich Louise hieß und eine Freundin seiner im Kindbett gestorbenen ersten Frau Antoinette war, folgte sie ihrem Mann ja wirklich in den Tod, und das auf ähnliche Weise wie im Drama dargestellt.)

Auch wenn mich die conditio humana-Deutung von „Dantons Tod“ nicht ganz überzeugt – es ist schließlich kein auf Allgemeingültigkeit angelegtes Ideendrama, sondern eine Studie der Französischen Revolution und ihrer Protagonisten einerseits und eine Darstellung persönlicher philosophischer Ansichten Büchners andererseits –, halte ich sie doch insgesamt für plausibel. Wirklich schief fand ich nur zwei Szenen: die schon erwähnte Rede von St. Just-Olympe und Dantons Verteidigungsrede vor dem Revolutionstribunal (III,9), die Pierre Bokma doch tatsächlich weinerlich vortrug. Jemand, der sich die eigene Selbstauslöschung wünscht (auch wenn er sie für letztlich nicht erreichbar hält), hält eine solche Rede doch nicht schluchzend! „[D]as Leben ist mir zur Last, man mag mir es entreißen, ich sehne mich danach, es abzuschütteln“, sagt er in seiner ersten Anhörung (III,4)! Abgesehen davon hat mich Bokma als Danton aber wirklich überzeugt; die vielbeschriebene Vitalität des Revolutionärs brachte er gut zum Ausdruck. (Die innere Erstarrung – Stichwort Nihilismus – im Gegensatz zur äußeren Lebhaftigkeit nicht ganz so gut, aber das lag eindeutig an der Inszenierung; seine Interpretation von III,9 mit Sicherheit auch.) Die Theaterbesucher schienen vor allem die Bühnenkonstruktion und die hinzugefügten Szenen zu irritieren; schlussendlich bekamen Pierre Bokma als Danton und Wolfgang Pregler als Robespierre zwar – verdient! – den meisten Applaus, die Musiker insgesamt aber mehr Beifall als die Schauspieler.

Insgesamt ist die Inszenierung sehens- und durchdenkenswert. Wer kann und möchte, kann sie noch am 5. Januar 2014 um 19 Uhr oder 10. Februar 2014 um 19.30 Uhr in den Münchner Kammerspielen sehen; weitere Termine sind bislang nicht angegeben.


Büchners „Dantons Tod“ in den Münchner Kammerspielen – Teil 1

1. Januar 2014

Das „Büchnerjahr“ 2013 mit dem 200. Geburtstag des Dichters durfte nicht zu Ende gehen, ohne von mir bei einem Theaterbesuch zelebriert zu werden. Georg Büchners (1813-1837) „Dantons Tod“ (1835) habe ich am 29. Dezember 2013 in einer Bearbeitung von Matthias Günther und Tobias Staab in den Münchner Kammerspielen gesehen. Bevor ich meine Eindrücke von der Inszenierung wiedergebe (Teil 2), möchte ich meine eigene Interpretation des Dramas vorausschicken (Teil 1), das neben Goethes „Faust I“ mein Lieblingsdrama ist. Zitiert wird nach der Szenenaufteilung von „Dantons Tod“ bei „Projekt Gutenberg“.

Wesentlich ist aus meiner Sicht die Darstellung Dantons als eines Menschen, der an den Unmenschlichkeiten der Revolution verzweifelt, die für das Volk keine Besserung seiner Lage mit sich gebracht haben. Er kann nicht mehr an die Willensfreiheit und die Wirksamkeit menschlichen Handelns glauben; stattdessen betrachtet er den Gang der Geschichte als unberechenbar (Fatalismus): „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“ (II, 5). Handeln erscheint ihm vom Einzelnen nicht steuerbar; er stürzt in Lethargie und Langeweile, die er durch „Genuss“ nach dem Motto „Wein, Weib und Gesang“ betäubt – was nicht zuletzt zu seiner Gefangennahme und Hinrichtung beiträgt. Bezeichnend der Wortwechsel zwischen Lacroix und Danton in der ersten Szene (I,1), der als epische Vorausdeutung das Ende schon vorwegnimmt: „Wir müssen handeln.“ – „Das wird sich finden.“ – „Es wird sich finden, wenn wir verloren sind.“
Dantons fatalistisches Geschichtsverständnis führt allerdings nicht dazu, dass er die Verantwortung Einzelner für bestimmte Ereignisse ganz negiert. Im Gegenteil fühlt er sich persönlich an den „Septembermorden“ von 1792 schuldig, die er als damaliger Justizminister mit befördert hat. Diese Schuld quält ihn ebenso wie das Bewusstsein, dass die Revolution nichts für die einfache Bevölkerung erreichen konnte.

Robespierre, der ihm wegen seiner Genusssucht sittliche Verfehlungen vorwirft, hält Danton den sprichwörtlichen Spiegel vor und entlarvt dessen Tugendhaftigkeit als Selbstgerechtigkeit: „Ich würde mich schämen, dreißig Jahre lang mit der nämlichen Moralphysiognomie zwischen Himmel und Erde herumzulaufen, bloß um des elenden Vergnügens willen, andre schlechter zu finden als mich. – Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte: du lügst, du lügst!?“ (I,6) Tatsächlich stürzt er den „Unbestechlichen“ damit in Selbstzweifel, doch aus dieser Handlungslosigkeit entreißt ihn sein Scharfmacher St. Just sogleich wieder, um den Tod der Dantonisten zu beschließen.

Danton ist seines Lebens überdrüssig; er sehnt sich nach Selbstauslöschung und damit auch der Auslöschung seiner Seelenqual, möchte endlich Ruhe im Nichts finden. Doch auch der Nihilismus bietet ihm letztlich keine Zuflucht: „Der verfluchte Satz: Etwas kann nicht zu nichts werden! Und ich bin etwas, das ist der Jammer!“ (III,7). Sogar die Selbstauslöschung erscheint also als Ding der Unmöglichkeit. Danton will nicht mehr leben, doch auch im Tod ist für ihn keine Hoffnung auf Erlösung – religiöse ohnehin nicht, aber eben auch keine philosophische.
Oder vielleicht doch? Dantons letzte Worte, bevor er von der Conciergerie auf den Revolutionsplatz zur Hinrichtung geführt werden, lauten: „Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.“ (IV,5) Die vage Hoffnung, dass das ersehnte Nichts irgendwann entstehen könnte (wie die Welt nach Hesiods Theogonie (Θεογονία), auf die Büchner hier wohl anspielt, oder Gen 1,1 irgendwann aus dem Chaos entstanden ist, möchte man hinzufügen), hat er also nicht ganz aufgegeben. Aber nach Hesiods „Werke und Tage“ (Ἔργα καὶ Ἡμέραι) blieb ja auch in der Büchse der Pandora am Ende nur die trügerische(!) Hoffnung zurück…
Dantons Philosophie ist kein geschlossenes System; sie wandelt sich im Verlauf des Stücks.

Dass sich Danton am Ende vor dem Revolutionstribunal doch gegen seine Ankläger verteidigt (III,9 und 10), ist wohl mehr dem Wunsch geschuldet, es den radikalen Jakobinern um Robespierre nicht gar zu leicht zu machen und die eigene Haut nicht gar so billig zu verkaufen, als ein ernsthafter Versuch, sie zu retten. Es gelingt ohnehin nicht; die Volksmasse ist zu wankelmütig und unberechenbar, als dass sie sich von Dantons Argumenten dauerhaft gewinnen ließe. Aber ist auch hier nicht eine leise Hoffnung? Die Hoffnung nämlich, dass der Tod der gemäßigten Jakobiner um Danton bereits den Sturz Robespierres vorwegnimmt – und damit letztlich doch das Ende des Terreur und seines sinnlosen Mordens bringt. „Ihr tötet uns an dem Tage, wo ihr den Verstand verloren habt; ihr werdet sie an dem töten, wo ihr ihn wiederbekommt“ (IV,7) – so spricht allerdings nicht Danton, sondern Lacroix, der ja weiter an der Bedeutsamkeit menschlichen Handelns festhält. Gut möglich, dass Danton seine flammende Verteidigungsrede nur aus Verbundenheit mit seinen Freunden hält, die mit ihm todgeweiht sind, weil er nicht handelte, als vielleicht noch Zeit gewesen wäre. Lacroix’ Worte sind und bleiben aber eine Vorausdeutung – keine intrafiktionale, sondern eine auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Sie lassen zumindest diese Überlegung zu: Wenn Dantons philosophische Reflexionen über das Nichts und die Geschichte Büchners persönliche Überzeugungen wiedergeben (was man wohl annehmen darf, da Büchner entsprechende Überlegungen in Briefen äußert), dann ist Dantons/Büchners Geschichtsfatalismus vielleicht ebenso brüchig wie Dantons/Büchners Nihilismus. Ein geradezu postmodernes Denken, dieses Vielleicht-doch, das das Vorhandensein absolut gesetzter Überzeugungen/Ideologien negiert, ohne letztlich eine Lösung anbieten zu können. Ja, auch Büchners eigenes Handeln als Revolutionär in der Vormärzzeit, insbesondere seine Flugschrift „Der Hessische Landbote“ (1834), blieb letztlich ohne die erhoffte Wirkung. Aber … vielleicht doch?

Kurzum: Für mich sind zum einen die philosophische Dimension des Dramas (Geschichtsfatalismus und Nihilismus wie auch das Ungenügen an ihnen) und zum anderen die (entsprechend der Quellen, die Büchner zur Verfügung standen) möglichst realistische Darstellung der Revolutionszeit die beiden wesentlichen Interpretationszugänge zum Drama. Zu letzterem Punkt, auf den ich hier nur oberflächlich eingegangen bin, zählen sowohl die Darstellung der prekären Situation des Volkes und der Eigendynamik von Volksmassen als auch die zahlreichen wörtlich eingewobenen Quellenpassagen insbesondere in Bezug auf politische Äußerungen. Die wörtlichen Zitate sind, ebenso wie die vielen klassizistischen Anspielungen der Revolutionäre auf die Antike, für die intertextuelle Mehrschichtigkeit des Dramas wichtig; ich will aber nicht verhehlen, dass mich die philosophische Seite mehr interessiert, ich ihr deshalb auch mehr Raum gegeben habe.


Immerwährende 365-Tage-Kalender

28. Juli 2013

Nachdem ich in meinem Eintrag vom 27. Juli 2013 auf den Paperblanks-Kalender eingegangen bin, das Geburtstagsgeschenk für meinen Vater, möchte ich nun auf das Namenstagsgeschenk für meine Oma zu sprechen kommen: einen immerwährenden 365-Tageskalender mit je einem Bild und einem Spruch pro Tag von Weltbild, 365 Weisheiten der Welt. Ich habe diesen Kalender ausgewählt, weil meine Oma schöne Bilder mit Sprüchen dazu sehr gerne mag. Tatsächlich hat sie sich sehr darüber gefreut. 🙂

Was mich betrifft, ist es zwar nicht so, dass ich Zitate und schöne Bilder grundsätzlich nicht mag, aber mir sind politische Statements deutlich lieber – oder solche Zitate, die (obwohl vom Verfasser natürlich nicht beabsichtigt) manchmal geradezu erschreckend prophetisch wirken:

Und eh‘ ihr einen Schläger
Erhebt zum Völkermord,
Sucht unsern Bannerträger,
Das freie Wort!

— 2. Strophe des Gedichts „Das freie Wort“ von Georg Herwegh (1817-1875) aus der Sammlung „Gedichte eines Lebendigen“, Teil 1 (1841)

Sprüche wie „Das Glück ist das Einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt“ sind dagegen weniger mein Fall – solche „Weisheiten“ finde ich platt und banal. Meine Oma nicht. Das ist ihr gutes Recht, aber es ist auch mein gutes Recht, diese Sprüche nicht zu mögen.
(Laut Wikipedia ist das Sprichwort mit dem doppelten Glück übrigens aus China; andere Internetstimmen schreiben es Albert Schweitzer zu. Vielleicht hat es ja auch einfach irgendein Sprüchekompilator mal selbst erfunden.)

Was ich unter einem „schönen Bild“ verstehe, ist vermutlich auch nicht ganz dasselbe wie das, was meine Oma dazu zählen würde: Blumen gehören nämlich nicht dazu, Wald und v.a. Wasser dagegen schon – Hauptsache, viel Dunkelgrün und Blau oder Gelb. Aber was rede ich – ihr seht ja das Design meines Blogs. Deshalb ist der „Weisheiten der Welt“-Kalender genau das Richtige für meine Oma – nicht für mich. Aber das Geschenk soll ja dem Beschenkten gefallen und Freude bereiten – nicht dem Schenkenden. Ergo: Ziel erfüllt! 🙂

Blatt vom 1. Juli aus dem Kalender "365 magische Momente"

Blatt vom 1. Juli aus dem Kalender „365 magische Momente“

Kunst und v.a. Architektur gehören für mich auf jeden Fall und ganz besonders zu den „schönen Bildern“, z.B. der romanische Kreuzgang eines Klosters oder gotische Kathedralen. Deshalb besitze ich selbst den immerwährenden Tageskalender Eine Reise ins Mittelalter. 365 magische Momente von Pattloch (Verlagsgruppe Droemer Knaur), an dem mich aber mitunter extrem stört, dass nirgends angegeben ist, was denn nun genau auf diesem oder jenem Bild zu sehen ist. Gut, ich erkenne schon ein paar Abbildungen, z.B. am 1. Juli die Tapisserie mit der „Jungfrau mit dem Einhorn“ als Symbol für Eitelkeit aus dem Pariser Musée de Cluny. Aber alles kenne ich eben auch nicht. Sogar das Wenigste.
Etwas besser ist es bei den Zitaten. Bei den Textzeilen „Das muss ein Armseliger sein, der nicht lebt und nicht liebt unter des Sommers Herrschaft“, ebenfalls für den 1. Juli, ist immerhin angegeben, dass sie „aus den Carmina Burana“ seien. Dass sie präzise gesagt aus „Ecce gratum“ (Nr. 143) stammen und im lateinischen Original „illi mens est misera/ qui nec vivit/ nec lascivit/ sub Estatis dextera“ heißen, könnte man sich aber auch dann leicht ergoogeln, wenn man weder von der Benediktbeurer Liederhandschrift noch von Carl Orffs szenischer Kantate je zuvor gehört hätte. Bei den Sprüchen ist es also schon in Ordnung, aber bei den Abbildungen ist es wirklich schade. Der Bildnachweis nennt leider nur die Rechteinhaber. Vermutlich stört es 95% der Käufer dieses Kalenders auch überhaupt nicht, dass genauere Quellenangaben bei den Bildern fehlen, aber ich empfinde es an dem sonst schönen Kalender als Manko. In mir schlägt halt ein Historiker-Herz.
Zur Ehrenrettung des Kalenders muss man auch sagen, dass er trotz des romantisch-mittelalterverklärenden Titels wirklich geschmackvoll ist. Und der Geschichtsdidaktiker in mir, der „zu ästhetisierend“ sagt, darf jetzt einfach mal ruhig sein… Außerdem: Selbst wenn ich hier kritisiere, dass der Kalender keine didaktischen Standards einhält – ich hab ihn mir gekauft, er steht auf meinem Schreibtisch, ich blättere ihn jeden Tag um, er gefällt mir. Punkt.


Zur Geschichte des Klosters Andechs

20. April 2013

… bis zur Säkularisation 1803 habe ich neulich einen Kurzvortrag gehalten, der auf allgemein verständlichem Niveau bleibt. Nachdem ich nicht weiß, was ich sonst damit tun soll (außer ihn auf meinem Rechner versauern zu lassen) und mir denke, dass der Text zur unkomplizierten Vorbereitung eines Andechs-Besuchs ganz sinnvoll sein kann – jedenfalls dann, wenn man dort nicht bloß Bier trinken gehen möchte, sondern auch ein gewisses (kunst-)historisches Interesse hat -, habe ich ihn hier in der Rubrik „Diverses“ online gestellt:

Geschichte der Burg und des Klosters Andechs bis zur Säkularisation 1803


Gedicht: St Bartholomew’s Night

29. August 2012

Entgegen meiner Pläne zwei Posts vorher lese ich im Moment nicht “The Pillars of the Earth”, sondern habe mich für „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ von Heinrich Mann entschieden. Weil ich gerade Hausarbeiten für die Uni schreibe, komme ich meistens nur vor dem Schlafengehen ein wenig zum Lesen. Gestern waren es die Kapitel über die Bartholomäusnacht (23./ 24. August 1572). Heute Morgen wachte ich dann auf und hatte dieses Gedicht im Kopf:

St Bartholomew’s Night

Wild men slaying,
Wearing white brassards,
Howling, shouting:
“Huguenots must die!”
Brave men lying
Dying in the streets.
Desperate crying:
“Oh, King Henry, help!
Can you hear us,
Can you hear our cries?
Your men are dying
On St Bartholomew’s Night!”

King Henry standing,
Staring in the dark:
The sky has reddened
On St Bartholomew’s Night.

François Dubois: Le massacre de la Saint-Barthélemy

François Dubois: Le massacre de la Saint-Barthélemy (ca. 1572-84)

Schnellschuss, ich weiß. Deshalb auch die Sofortveröffentlichung. Auch, weil es nur ein paar Tage nach dem 440. Jahrestag sind.

Why in English?
Hum. Maybe because there’s a present progressive in English and, what is more, the present progressive and the gerund appear in the same form? Because there are more monosyllabic words in English than there are in German? Well, maybe. The idea was in English, that’s all I know for sure.


Gaucks erste Rede als Bundespräsident

23. März 2012

Von http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,823277,00.html:

Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. […] Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit.

Wie schön, das aus seinem Mund zu hören!
Und liberal ist… Gauck!

Und speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir in aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.
Die Extremisten anderer politischen Richtungen werden unserer Entschlossenheit in gleicher Weise begegnen. Und auch denjenigen, die unter dem Deckmantel der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen, und die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werden wir Einhalt gebieten. Ihnen sagen wir: Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet ihren Zug vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr ihn nicht.

Herr Bundespräsident, Sie sprechen mir aus der Seele!
Nur in einem schöneren, elegant schlichten Stil, der klar und deutlich sagt, was Sie meinen.
So möchte ich auch schreiben – und reden – können.
Ich werde mir Ihren Stil zum Vorbild für meine Seminararbeiten nehmen. (Zumindest für die deutschen. Bei meinen englischsprachig verfassten Essays habe ich zweimal den Kommentar bekommen, sie seien „elegantly written and presentend“. Nur auf Deutsch neige ich leider zum Verschwurbelt-Schreiben mit besonders komplexen Satzkonstruktionen.)

Ach… war da nicht mal was mit „ein Bundespräsident soll Vorbild sein“?
Ist er schon. Nach dieser Rede auf jeden Fall.


Ozymandias, oder: Warum ich keine Althistorikerin bin

15. Januar 2012

Das Studium der Alten Geschichte umfasst die griechisch-römische Welt der Antike. Dieses Gedicht über eine Statue des Pharao Ramses II. (griechisch „Ozymandias“) ist einer der Gründe, weshalb ich finde, dass ich mich nicht unbedingt zur Althistorikerin eigne:

Percy Bysshe Shelley (1792-1822): Ozymandias
I met a traveller from an antique land,
Who said — „two vast and trunkless legs of stone
Stand in the desert … near them, on the sand,
Half sunk a shattered visage lies, whose frown,
And wrinkled lips, and sneer of cold command,
Tell that its sculptor well those passions read
Which yet survive, stamped on these lifeless things,
The hand that mocked them, and the heart that fed;
And on the pedestal these words appear:
My name is Ozymandias, King of Kings,
Look on my Works ye Mighty, and despair!
Nothing beside remains. Round the decay
Of that colossal Wreck, boundless and bare
The lone and level sands stretch far away.“ —
— Quelle: http://rpo.library.utoronto.ca/poem/1904.html

Warum? – Ganz einfach: Jedesmal, wenn ich mit epigraphischen Quellen (= antiken Inschriften) arbeiten muss, denke ich unwillkürlich an dieses Gedicht und den Ausdruck der Vergänglichkeit menschlicher Gestaltungsfähigkeit, den es für mich verkörpert.

Wenn ich beispielsweise eine Grabinschrift des römischen Bürgers „–ilius“ vor mir liegen habe, die von einem verwaschenen, teilweise zerstörten bearbeiteten Steinblock stammt, kann ich nicht anders als daran zu denken, dass die Inschrift wahrscheinlich das Einzige ist, das von diesem Menschen übrig geblieben ist: Sie ist zum großen Teil zerstört. Nicht einmal sein Name blieb der Nachwelt erhalten!

Diese „romantische“ (im Sinne der Epoche) Herangehensweise ist vielleicht das Richtige für eine Literaturwissenschaftlerin, aber nicht unbedingt für eine Althistorikerin… „Mein“ Gebiet in der Geschichte beginnt also erst ab dem Mittelalter. 😉


Liberal ist…

22. August 2011

Irgendwo auf diesem Blog muss ich schon einmal erwähnt haben, dass mein Selbstbild das einer „liberalen katholischen Christin“ ist. Das Wörtchen „liberal“ ist dabei für mich mehr als nur eine Präzisierung des Wortes „Christin“. Über Glauben schreibe ich wahrscheinlich ein andermal noch einen Beitrag. Jetzt, wo der Liberalismus mal wieder besonders stark in der Kritik ist, ist aber vielleicht der richtige Zeitpunkt, um sich einmal als „liberal“ zu „outen“ – und zu schreiben, was man denn darunter verstanden wissen möchte.

Genug der Vorrede!

Liberal ist jemand, der denkt, dass „Freiheit zur Verantwortung“ keine Floskel ist, die nur im Parteiprogramm einer (mittlerweile wieder sehr) kleinen gelben Partei steht. Liberal ist jemand, für den „Freiheit zur Verantwortung“ eine Überzeugung ist: Im Mittelpunkt des Liberalismus steht der Mensch.

Deshalb ist es für mich eben gerade keine liberale Überzeugung, wenn jemand glaubt, im Sinne des Liberalismus für finanzielle Einschnitte bei allem Möglichen eintreten zu müssen – auch bei den sozialen Sicherungssystemen. Denn es gibt Menschen, deren Fähigkeiten für die Wirtschaft nicht so „verwertbar“ sind wie die anderer Menschen – und Menschen, die vielleicht gar nicht bloß „wirtschaftlich verwertbar“ sein, geschweige denn danach gemessen werden wollen.
Einer davon schreibt hier.

Und überhaupt der Glaube, Bildung und Ausbildung seien etwas, das nur ja möglichst gut wirtschaftlich verwertbar sein muss: der ist auch nicht liberal. Er ist weder ethisch noch moralisch, denn er missachtet die Würde derjenigen, die nun als eben nicht so „verwertbar“ angesehen werden.
„Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ – so lautet eine bekannte Formulierung des praktischen Imperativs bzw. der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs in Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785).
Der Mensch soll niemals Mittel zum Zweck sein, sondern in seinem eigenen Wert im Mittelpunkt stehen – davon überzeugt zu sein, das wiederum ist liberal. Liberal ist es, für diese Überzeugung einzustehen – auch wenn sie einmal nicht mit nur scheinbar „wirtschaftsliberalen“ „Notwendigkeiten“ konform geht.

Ja, liberal ist für mich jemand, der zu seinen Überzeugungen steht – der für sie einsteht, auch wenn es mal unbequem oder „nicht in Mode“ ist. Aber niemand, der zu jedem Thema seinen Senf dazugeben muss. Sondern jemand, der widerspricht, wenn andere etwas vertreten, das seinen Überzeugungen widerspricht.

Liberal ist jemand, der glaubt, dass ein Bildungs- und Erziehungsziel „kritische Mündigkeit“, wie es in der Bundesrepublik Deutschland vertreten wird, essentiell wichtig ist. Der glaubt, dass es in der Schule nicht nur darauf ankommt, fachliches Wissen zu vermitteln oder Schülern beizubringen, wie sie in der Gesellschaft sozial „überleben“ können.
All dies ist sehr wichtig – völlig ohne Frage. Aber entscheidend ist es, junge Menschen dazu zu bewegen, selbst denken zu lernen: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Das ist nicht nur der „Wahlspruch der Aufklärung“, als den ihn Kant in seinem berühmten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) darstellt. Das ist es auch, was für mich im Kern jeder schulischen und sonstigen Bildung steht. Das ist der Grund, weshalb ich Lehramt studiere. Das ist mein liberales Pathos. Das ist meine tiefste Überzeugung.
Denn das Entscheidende ist nicht, in einer Gesellschaft bloß „überleben“ zu können. Das Entscheidende ist es, sie gestalten zu können. Die Gesellschaft – und die eigene Zukunft.

Liberal ist es aber nicht, die Augen davor zu verschließen, dass es Menschen gibt, die das eben angesprochene Metareflexionsniveau nicht erreichen können – etwa aufgrund der eigenen genetischen Ausstattung (z.B. Trisomie 21 / „Down-Syndrom“) oder wegen eines Unfalls. Und dass es Menschen gibt, die in ihrer „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ verharren, wie es Kant so klar erkannte, oder in sie zurückgeworfen werden. Nicht bloß aus „Faulheit und Feigheit“, wie der Philosoph schrieb – nein, auch aus Lebensangst, schlechten Erfahrungen, Krankheit (z.B. schwerer Depression, Alzheimer), hohem Alter etc. Oder weil sie einfach niemand angeleitet hat, wie sie den „Ausgang aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit“ finden können. Oder weil sie sich dem als Kinder verweigert haben, weil sie damals noch nicht so weit dachten. Oder weil … es gibt so viele mögliche Gründe.
Auch für diese Menschen muss ein liberaler Staat sorgen, wenn er wirklich den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Selbst dann, wenn der Grund tatsächlich „Faulheit“ sein sollte – denn ein Liberaler lässt keinen einzigen Menschen auf der Strecke.
Das als „liberal“ zu bezeichnen, ist eine ziemlich unmodische Sichtweise, nicht wahr? Sie war eigentlich auch nie in Mode. Aber ich schrieb ja schon, dass es hier um Moden nicht geht.

Liberal ist ein Mensch, der das Wort „Toleranz“ nicht wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt („erdulden“, „erleiden“, „zulassen“). Liberal ist es, andere nicht für die Art und Weise zu verurteilen, wie sie ihr Privatleben gestalten möchten. Liberal ist jemand, der andere Menschen so akzeptiert, wie sie sind, solange sie damit kein Verbrechen begehen. Denn liberal ist es, andere mit Achtung und Respekt zu behandeln – und es ist tolerant.

Liberal ist jemand, für den Freiheitsrechte keine Verhandlungsmasse sind. Liberale sind Norweger im Geiste. Sie schreien nach Anschlägen und Verbrechen nicht nach noch mehr Überwachung, sondern rufen laut: „Jetzt erst recht! Wir brechen eine Lanze für eine liberale Gesellschaft!“
„Der Freiheit eine Gasse!“, wie in dem Herwegh-Gedicht (1841).
In diesem Sinne können Liberale durchaus radikal sein.

Liberal ist es, für diese Überzeugungen einzutreten, auch wenn – oder gerade wenn – man damit (momentan) keinen Blumentopf gewinnen kann.

Diese Liste könnte ich noch viel weiter führen. Aber irgendwo muss man ja auch einmal einen Punkt machen.
Nur – wie nennen wir das ganze nun? Bürgerrechtsliberal? Sozialliberal? Linksliberal? Oder: falsch verstandener Liberalismus? Aus meiner subjektiven Sicht richtig verstandener Liberalismus?
Ja, und hier kommt nun die Stelle, an der man mal jemandem, der sich als „liberal“ bezeichnet, mit Fug und Recht Beliebigkeit vorwerfen darf: Das ist mir völlig egal! Für mich ist es einfach nur das: liberal. Ohne präzisierende Attribute. Und wenn ihr mir unbedingt ein Etikett aufkleben müsst – sucht euch eins aus!

Doch eines sollte klar sein: Liberalismus bedeutet nicht „Beliebigkeit“, nicht reines „Laisser-faire“. Liberalismus ist wertegebunden. Und Liberalismus kann ganz schön unbequem sein. Für den, der ihm begegnet – und (gerade vor allem) für den, der ihn vertritt.

Ist das, was ich oben ausgeführt habe, utopisch?
Vielleicht.
Ist es idealistisch?
Na, aber so was von!
Ist es meine Überzeugung?
Auf jeden Fall.

In diesem Sinne: Vielen Dank für alle, die bis hier unten durchgehalten haben! 😉