Büchners „Dantons Tod“ in den Münchner Kammerspielen – Teil 2

1. Januar 2014

Das „Büchnerjahr“ 2013 durfte nicht zu Ende gehen, ohne von mir bei einem Theaterbesuch zelebriert zu werden. Georg Büchners (1813-1837) „Dantons Tod“ (1835) habe ich am 29. Dezember 2013 in einer Bearbeitung von Matthias Günther und Tobias Staab in den Münchner Kammerspielen gesehen. Nachdem ich meine eigene Interpretation des Dramas vorausgeschickt habe (Teil 1), möchte ich nun meine Eindrücke von der Inszenierung wiedergeben (Teil 2).

Die beiden Dramaturgen Günther und Staab haben dem ohnehin schon mehrschichtigen Dramentext, in den Büchner Quellen aus der Zeit der Französischen Revolution einmontiert hat, noch weitere Textlagen hinzugefügt. So weist schon der eingangs von einem der Präsidenten des Revolutionstribunals, Herman (Hans Kremer), gesprochene Text darauf hin, in welchem Sinne man das Stück interpretiert wissen möchte: als Drama über die conditio humana, über die Bedingungen des Menschseins und die „Natur“ bzw. das „Wesen“ des Menschen. Diese Perspektive zieht sich durch praktisch alle hinzumontierten Textpassagen und findet ihren Kulminations- und Schlusspunkt darin, dass Robespierre (Wolfgang Pregler) als seine „Letzte[n] Worte“ auf der Bühne den Schluss des Romans „Elementarteilchen“ (Les particules élémentaires, 1998) des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq zitiert, das mit dem pathetischen Satz endet: „Dieses Buch ist dem Menschen gewidmet“ (S. 357). Ein Satz, den man angesichts der Handlung sowohl des Dramas als auch des Romans (der, kurz gesagt, die Selbstabschaffung des Menschen durch die Gentechnik zum Thema hat) wohl nur ironisch verstehen kann. Allerdings als doppelte Ironie, die sich selbst auflöst: Michel Houellebecqs doppelbödige Erzählweise entlarvt durch innere Widersprüche die menschenverachtende Ideologie seines personalen Erzählers Michel, der das Glück der Menschheit im Ende seiner natürlichen Reproduktion sieht, und liefert damit letztlich doch ein echtes Plädoyer für den (nicht gentechnisch veränderten) Menschen. Ebenso selbstentlarvend menschenverachtend ist für die Dramaturgen das Gerede Robespierres (z.B. „Die Revolutionsregierung ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei“, I,3)  und St. Justs (v.a. seine Rechtfertigung des terreur in II,7: „Die Schritte der Menschheit sind langsam, man kann sie nur nach Jahrhunderten zählen; hinter jedem erheben sich die Gräber von Generationen. Das Gelangen zu den einfachsten Erfindungen und Grundsätzen hat Millionen das Leben gekostet, die auf dem Wege starben. Ist es denn nicht einfach, daß zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr Menschen außer Atem kommen?“). Auch ex negativo und mittels einer intertextuellen Analogie lässt sich Büchners Drama also als Plädoyer für Menschlichkeit deuten. Bestätigt wird diese Interpretation durch den ausdrücklichen Überdruss der gemäßigten Jakobiner am Töten, etwa durch Héraults Reden gegenüber seinen Freunden („Die Revolution muß aufhören, und die Republik muß anfangen“, etc., I,1 – bei den Münchner Kammerspielen, wenn ich mich recht erinnere, Lacroix zugewiesen, da Hérault gestrichen wurde). Ob dieses Additum wirklich nötig gewesen wäre? Ob es außerdem nötig gewesen wäre, dass sich Robespierre nackt auszieht, während er spricht – der Mensch in seiner physischen Verletzlichkeit – und den Theaterbesucher so noch mit der Nase auf diese Deutung stößt?

Die Nacktheit des kleinbürgerlichen Tyrannen auf der Bühne erinnerte mich an Bert Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (1941) in der aktuellen Inszenierung des Berliner Ensembles, in der sich Arturo Ui a.k.a. Adolf Hitler auch einmal nackt auf der Bühne befindet. Ebenso intonierte Pregler Robespierres Monolog nach der Konfrontation mit Danton (Pierre Bokma) in I,6 im Stil einer grotesk-komischen Hitlerrede bzw. einer Rede Arturo Uis – ein weiterer intertextueller Bezug. Überhaupt scheint sich die Inszenierung stark an Brechts epischem Theater zu orientieren, als dessen Vorläufer vor allem Büchners „Woyzeck“ gilt: Die fiktionale Realität auf der Bühne wird schon von Anfang an durchbrochen. Kein Vorhang wird betätigt, nie erfolgt ein Szenenwechsel durch Veränderung des Bühnenbilds, es gibt kaum Auf- und Abtritte. Die Dantonisten sprechen oft in Anwesenheit der Robespierristen und umgekehrt. Das Bühnenbild selbst ist stilvoll: eine mit Kerzen geschmückte lange Tafel, an deren Ende ein Streicher-Ensemble sitzt, das während der gesamten Aufführung für Live-Musik sorgt (komponiert von Carl Oesterhelt).  Abwechslung erzeugen die Leinwände an der hinteren Bühnenwand, auf die zum einen szenenweise Schwarzweißbilder einer Kamera projiziert werden, die auf einem sich drehenden Tisch in der Mitte der Tafel liegt. Zum anderen werden so Stimmungen oder Vorstellungswelten der Charaktere ausgedrückt, z.B. Sommer oder Winter oder auch Dantons Frau Julie (Anna Drexler), die sich angesichts der Verhaftung und bevorstehenden Exekution Dantons auf eine blühende Sommerwiese fortträumt. Verfremdungseffekte entstehen auch, wenn einzelne Passagen erst im französischen Original und dann auf Deutsch gesprochen werden oder wenn der Bürger Simon (Benny Claessens) zuweilen statt gesprochener Passagen linksradikale Lieder singt („Totgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat!“, I,2). Herman erhält eine Doppelfunktion als Revolutionsrichter und fast schon allwissender Erzähler, der historische Erläuterungen zur Revolution und den Septembermorden liefert und in der eigentlich monologischen Flucht-Szene (II,4) als Freud-Verschnitt einen fast schon psychoanalytischen Dialog mit Danton führt, der keine Lust zu fliehen hat. St. Just wird von einer Schauspielerin gespielt (Annette Paulmann) – so weit, so gut, wird doch auch der „echte“ Saint-Just von Zeitgenossen als attraktiver, androgyn wirkender junger Mann beschrieben. Allerdings kann man Annette Paulmann in Kleid und Highheels nun wirklich nicht als androgyn bezeichnen; im Gegenteil erscheint sie so als Verkörperung der Marianne, wie in Delacroix’ berühmten Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ (La Liberté guidant le peuple, 1830). Grotesk  wird es allerdings, wenn St Justs große Hetzrede (II,7) zum Gespräch mit Lucile (Marie Jung) wird, die ihm gegenübersitzt, und bruchlos in Olympe de Gouges’ „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ (Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne, 1791) übergleitet und vor allem aus der Vorrede, aber auch aus den Artikeln zitiert: „Die Frau hat das Recht das Schafott zu besteigen; sie muss gleichermaßen das Recht haben, die [Redner-]Tribüne zu besteigen“ (Art. 10). Von derlei politischen und nach Auffassung vieler Zeitgenossen „unweiblichen“ Vorstellungen hielt auch Saint-Just nichts – ganz zu schweigen davon, dass Olympe de Gouges den gemäßigten Girondisten nahestand. Schade fand ich, dass die „volksverhetzende“ Dimension der Rede dadurch abgemildert wurde (falls die Intention gewesen sein sollte, auf die Radikalität auch der Forderungen der Olympe de Gouges in ihrer Zeit hinzuweisen, kam das bei mir jedenfalls nicht an). Auch Dantons Nihilismus und sein Wunsch, durch Selbstauslöschung Ruhe zu finden, wirkten in dieser Inszenierung merklich gedämpft. Dies lag zum einen wohl daran, dass die Figur des Philippeau als gläubiger Gegenpol zum Atheisten Danton gestrichen worden war und passte zum anderen wohl nicht recht in die Interpretation Günthers und Staabs, die das Drama durch hinzugefügte Texte bis zu einem Bericht von der Ermordung Robespierres weiterführten, statt es mit der Hinrichtung der gemäßigten Jakobiner und Luciles selbstmörderischem „Es lebe der König! (IV,9)“ enden zu lassen. (Übrigens glaube ich entgegen Camilles Deutung in IV,5 nicht, dass es wirklich der Wahnsinn ist, der aus Lucile spricht, sondern eher der tragische Wunsch, ohne ihren Liebsten Camille nicht leben zu können und zu wollen. Im Gegensatz zu Dantons Frau Julie, die eigentlich Louise hieß und eine Freundin seiner im Kindbett gestorbenen ersten Frau Antoinette war, folgte sie ihrem Mann ja wirklich in den Tod, und das auf ähnliche Weise wie im Drama dargestellt.)

Auch wenn mich die conditio humana-Deutung von „Dantons Tod“ nicht ganz überzeugt – es ist schließlich kein auf Allgemeingültigkeit angelegtes Ideendrama, sondern eine Studie der Französischen Revolution und ihrer Protagonisten einerseits und eine Darstellung persönlicher philosophischer Ansichten Büchners andererseits –, halte ich sie doch insgesamt für plausibel. Wirklich schief fand ich nur zwei Szenen: die schon erwähnte Rede von St. Just-Olympe und Dantons Verteidigungsrede vor dem Revolutionstribunal (III,9), die Pierre Bokma doch tatsächlich weinerlich vortrug. Jemand, der sich die eigene Selbstauslöschung wünscht (auch wenn er sie für letztlich nicht erreichbar hält), hält eine solche Rede doch nicht schluchzend! „[D]as Leben ist mir zur Last, man mag mir es entreißen, ich sehne mich danach, es abzuschütteln“, sagt er in seiner ersten Anhörung (III,4)! Abgesehen davon hat mich Bokma als Danton aber wirklich überzeugt; die vielbeschriebene Vitalität des Revolutionärs brachte er gut zum Ausdruck. (Die innere Erstarrung – Stichwort Nihilismus – im Gegensatz zur äußeren Lebhaftigkeit nicht ganz so gut, aber das lag eindeutig an der Inszenierung; seine Interpretation von III,9 mit Sicherheit auch.) Die Theaterbesucher schienen vor allem die Bühnenkonstruktion und die hinzugefügten Szenen zu irritieren; schlussendlich bekamen Pierre Bokma als Danton und Wolfgang Pregler als Robespierre zwar – verdient! – den meisten Applaus, die Musiker insgesamt aber mehr Beifall als die Schauspieler.

Insgesamt ist die Inszenierung sehens- und durchdenkenswert. Wer kann und möchte, kann sie noch am 5. Januar 2014 um 19 Uhr oder 10. Februar 2014 um 19.30 Uhr in den Münchner Kammerspielen sehen; weitere Termine sind bislang nicht angegeben.


Büchners „Dantons Tod“ in den Münchner Kammerspielen – Teil 1

1. Januar 2014

Das „Büchnerjahr“ 2013 mit dem 200. Geburtstag des Dichters durfte nicht zu Ende gehen, ohne von mir bei einem Theaterbesuch zelebriert zu werden. Georg Büchners (1813-1837) „Dantons Tod“ (1835) habe ich am 29. Dezember 2013 in einer Bearbeitung von Matthias Günther und Tobias Staab in den Münchner Kammerspielen gesehen. Bevor ich meine Eindrücke von der Inszenierung wiedergebe (Teil 2), möchte ich meine eigene Interpretation des Dramas vorausschicken (Teil 1), das neben Goethes „Faust I“ mein Lieblingsdrama ist. Zitiert wird nach der Szenenaufteilung von „Dantons Tod“ bei „Projekt Gutenberg“.

Wesentlich ist aus meiner Sicht die Darstellung Dantons als eines Menschen, der an den Unmenschlichkeiten der Revolution verzweifelt, die für das Volk keine Besserung seiner Lage mit sich gebracht haben. Er kann nicht mehr an die Willensfreiheit und die Wirksamkeit menschlichen Handelns glauben; stattdessen betrachtet er den Gang der Geschichte als unberechenbar (Fatalismus): „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“ (II, 5). Handeln erscheint ihm vom Einzelnen nicht steuerbar; er stürzt in Lethargie und Langeweile, die er durch „Genuss“ nach dem Motto „Wein, Weib und Gesang“ betäubt – was nicht zuletzt zu seiner Gefangennahme und Hinrichtung beiträgt. Bezeichnend der Wortwechsel zwischen Lacroix und Danton in der ersten Szene (I,1), der als epische Vorausdeutung das Ende schon vorwegnimmt: „Wir müssen handeln.“ – „Das wird sich finden.“ – „Es wird sich finden, wenn wir verloren sind.“
Dantons fatalistisches Geschichtsverständnis führt allerdings nicht dazu, dass er die Verantwortung Einzelner für bestimmte Ereignisse ganz negiert. Im Gegenteil fühlt er sich persönlich an den „Septembermorden“ von 1792 schuldig, die er als damaliger Justizminister mit befördert hat. Diese Schuld quält ihn ebenso wie das Bewusstsein, dass die Revolution nichts für die einfache Bevölkerung erreichen konnte.

Robespierre, der ihm wegen seiner Genusssucht sittliche Verfehlungen vorwirft, hält Danton den sprichwörtlichen Spiegel vor und entlarvt dessen Tugendhaftigkeit als Selbstgerechtigkeit: „Ich würde mich schämen, dreißig Jahre lang mit der nämlichen Moralphysiognomie zwischen Himmel und Erde herumzulaufen, bloß um des elenden Vergnügens willen, andre schlechter zu finden als mich. – Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte: du lügst, du lügst!?“ (I,6) Tatsächlich stürzt er den „Unbestechlichen“ damit in Selbstzweifel, doch aus dieser Handlungslosigkeit entreißt ihn sein Scharfmacher St. Just sogleich wieder, um den Tod der Dantonisten zu beschließen.

Danton ist seines Lebens überdrüssig; er sehnt sich nach Selbstauslöschung und damit auch der Auslöschung seiner Seelenqual, möchte endlich Ruhe im Nichts finden. Doch auch der Nihilismus bietet ihm letztlich keine Zuflucht: „Der verfluchte Satz: Etwas kann nicht zu nichts werden! Und ich bin etwas, das ist der Jammer!“ (III,7). Sogar die Selbstauslöschung erscheint also als Ding der Unmöglichkeit. Danton will nicht mehr leben, doch auch im Tod ist für ihn keine Hoffnung auf Erlösung – religiöse ohnehin nicht, aber eben auch keine philosophische.
Oder vielleicht doch? Dantons letzte Worte, bevor er von der Conciergerie auf den Revolutionsplatz zur Hinrichtung geführt werden, lauten: „Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.“ (IV,5) Die vage Hoffnung, dass das ersehnte Nichts irgendwann entstehen könnte (wie die Welt nach Hesiods Theogonie (Θεογονία), auf die Büchner hier wohl anspielt, oder Gen 1,1 irgendwann aus dem Chaos entstanden ist, möchte man hinzufügen), hat er also nicht ganz aufgegeben. Aber nach Hesiods „Werke und Tage“ (Ἔργα καὶ Ἡμέραι) blieb ja auch in der Büchse der Pandora am Ende nur die trügerische(!) Hoffnung zurück…
Dantons Philosophie ist kein geschlossenes System; sie wandelt sich im Verlauf des Stücks.

Dass sich Danton am Ende vor dem Revolutionstribunal doch gegen seine Ankläger verteidigt (III,9 und 10), ist wohl mehr dem Wunsch geschuldet, es den radikalen Jakobinern um Robespierre nicht gar zu leicht zu machen und die eigene Haut nicht gar so billig zu verkaufen, als ein ernsthafter Versuch, sie zu retten. Es gelingt ohnehin nicht; die Volksmasse ist zu wankelmütig und unberechenbar, als dass sie sich von Dantons Argumenten dauerhaft gewinnen ließe. Aber ist auch hier nicht eine leise Hoffnung? Die Hoffnung nämlich, dass der Tod der gemäßigten Jakobiner um Danton bereits den Sturz Robespierres vorwegnimmt – und damit letztlich doch das Ende des Terreur und seines sinnlosen Mordens bringt. „Ihr tötet uns an dem Tage, wo ihr den Verstand verloren habt; ihr werdet sie an dem töten, wo ihr ihn wiederbekommt“ (IV,7) – so spricht allerdings nicht Danton, sondern Lacroix, der ja weiter an der Bedeutsamkeit menschlichen Handelns festhält. Gut möglich, dass Danton seine flammende Verteidigungsrede nur aus Verbundenheit mit seinen Freunden hält, die mit ihm todgeweiht sind, weil er nicht handelte, als vielleicht noch Zeit gewesen wäre. Lacroix’ Worte sind und bleiben aber eine Vorausdeutung – keine intrafiktionale, sondern eine auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Sie lassen zumindest diese Überlegung zu: Wenn Dantons philosophische Reflexionen über das Nichts und die Geschichte Büchners persönliche Überzeugungen wiedergeben (was man wohl annehmen darf, da Büchner entsprechende Überlegungen in Briefen äußert), dann ist Dantons/Büchners Geschichtsfatalismus vielleicht ebenso brüchig wie Dantons/Büchners Nihilismus. Ein geradezu postmodernes Denken, dieses Vielleicht-doch, das das Vorhandensein absolut gesetzter Überzeugungen/Ideologien negiert, ohne letztlich eine Lösung anbieten zu können. Ja, auch Büchners eigenes Handeln als Revolutionär in der Vormärzzeit, insbesondere seine Flugschrift „Der Hessische Landbote“ (1834), blieb letztlich ohne die erhoffte Wirkung. Aber … vielleicht doch?

Kurzum: Für mich sind zum einen die philosophische Dimension des Dramas (Geschichtsfatalismus und Nihilismus wie auch das Ungenügen an ihnen) und zum anderen die (entsprechend der Quellen, die Büchner zur Verfügung standen) möglichst realistische Darstellung der Revolutionszeit die beiden wesentlichen Interpretationszugänge zum Drama. Zu letzterem Punkt, auf den ich hier nur oberflächlich eingegangen bin, zählen sowohl die Darstellung der prekären Situation des Volkes und der Eigendynamik von Volksmassen als auch die zahlreichen wörtlich eingewobenen Quellenpassagen insbesondere in Bezug auf politische Äußerungen. Die wörtlichen Zitate sind, ebenso wie die vielen klassizistischen Anspielungen der Revolutionäre auf die Antike, für die intertextuelle Mehrschichtigkeit des Dramas wichtig; ich will aber nicht verhehlen, dass mich die philosophische Seite mehr interessiert, ich ihr deshalb auch mehr Raum gegeben habe.


Gaucks erste Rede als Bundespräsident

23. März 2012

Von http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,823277,00.html:

Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. […] Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit.

Wie schön, das aus seinem Mund zu hören!
Und liberal ist… Gauck!

Und speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir in aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.
Die Extremisten anderer politischen Richtungen werden unserer Entschlossenheit in gleicher Weise begegnen. Und auch denjenigen, die unter dem Deckmantel der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen, und die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werden wir Einhalt gebieten. Ihnen sagen wir: Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet ihren Zug vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr ihn nicht.

Herr Bundespräsident, Sie sprechen mir aus der Seele!
Nur in einem schöneren, elegant schlichten Stil, der klar und deutlich sagt, was Sie meinen.
So möchte ich auch schreiben – und reden – können.
Ich werde mir Ihren Stil zum Vorbild für meine Seminararbeiten nehmen. (Zumindest für die deutschen. Bei meinen englischsprachig verfassten Essays habe ich zweimal den Kommentar bekommen, sie seien „elegantly written and presentend“. Nur auf Deutsch neige ich leider zum Verschwurbelt-Schreiben mit besonders komplexen Satzkonstruktionen.)

Ach… war da nicht mal was mit „ein Bundespräsident soll Vorbild sein“?
Ist er schon. Nach dieser Rede auf jeden Fall.


Liberal ist…

22. August 2011

Irgendwo auf diesem Blog muss ich schon einmal erwähnt haben, dass mein Selbstbild das einer „liberalen katholischen Christin“ ist. Das Wörtchen „liberal“ ist dabei für mich mehr als nur eine Präzisierung des Wortes „Christin“. Über Glauben schreibe ich wahrscheinlich ein andermal noch einen Beitrag. Jetzt, wo der Liberalismus mal wieder besonders stark in der Kritik ist, ist aber vielleicht der richtige Zeitpunkt, um sich einmal als „liberal“ zu „outen“ – und zu schreiben, was man denn darunter verstanden wissen möchte.

Genug der Vorrede!

Liberal ist jemand, der denkt, dass „Freiheit zur Verantwortung“ keine Floskel ist, die nur im Parteiprogramm einer (mittlerweile wieder sehr) kleinen gelben Partei steht. Liberal ist jemand, für den „Freiheit zur Verantwortung“ eine Überzeugung ist: Im Mittelpunkt des Liberalismus steht der Mensch.

Deshalb ist es für mich eben gerade keine liberale Überzeugung, wenn jemand glaubt, im Sinne des Liberalismus für finanzielle Einschnitte bei allem Möglichen eintreten zu müssen – auch bei den sozialen Sicherungssystemen. Denn es gibt Menschen, deren Fähigkeiten für die Wirtschaft nicht so „verwertbar“ sind wie die anderer Menschen – und Menschen, die vielleicht gar nicht bloß „wirtschaftlich verwertbar“ sein, geschweige denn danach gemessen werden wollen.
Einer davon schreibt hier.

Und überhaupt der Glaube, Bildung und Ausbildung seien etwas, das nur ja möglichst gut wirtschaftlich verwertbar sein muss: der ist auch nicht liberal. Er ist weder ethisch noch moralisch, denn er missachtet die Würde derjenigen, die nun als eben nicht so „verwertbar“ angesehen werden.
„Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ – so lautet eine bekannte Formulierung des praktischen Imperativs bzw. der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs in Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785).
Der Mensch soll niemals Mittel zum Zweck sein, sondern in seinem eigenen Wert im Mittelpunkt stehen – davon überzeugt zu sein, das wiederum ist liberal. Liberal ist es, für diese Überzeugung einzustehen – auch wenn sie einmal nicht mit nur scheinbar „wirtschaftsliberalen“ „Notwendigkeiten“ konform geht.

Ja, liberal ist für mich jemand, der zu seinen Überzeugungen steht – der für sie einsteht, auch wenn es mal unbequem oder „nicht in Mode“ ist. Aber niemand, der zu jedem Thema seinen Senf dazugeben muss. Sondern jemand, der widerspricht, wenn andere etwas vertreten, das seinen Überzeugungen widerspricht.

Liberal ist jemand, der glaubt, dass ein Bildungs- und Erziehungsziel „kritische Mündigkeit“, wie es in der Bundesrepublik Deutschland vertreten wird, essentiell wichtig ist. Der glaubt, dass es in der Schule nicht nur darauf ankommt, fachliches Wissen zu vermitteln oder Schülern beizubringen, wie sie in der Gesellschaft sozial „überleben“ können.
All dies ist sehr wichtig – völlig ohne Frage. Aber entscheidend ist es, junge Menschen dazu zu bewegen, selbst denken zu lernen: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Das ist nicht nur der „Wahlspruch der Aufklärung“, als den ihn Kant in seinem berühmten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) darstellt. Das ist es auch, was für mich im Kern jeder schulischen und sonstigen Bildung steht. Das ist der Grund, weshalb ich Lehramt studiere. Das ist mein liberales Pathos. Das ist meine tiefste Überzeugung.
Denn das Entscheidende ist nicht, in einer Gesellschaft bloß „überleben“ zu können. Das Entscheidende ist es, sie gestalten zu können. Die Gesellschaft – und die eigene Zukunft.

Liberal ist es aber nicht, die Augen davor zu verschließen, dass es Menschen gibt, die das eben angesprochene Metareflexionsniveau nicht erreichen können – etwa aufgrund der eigenen genetischen Ausstattung (z.B. Trisomie 21 / „Down-Syndrom“) oder wegen eines Unfalls. Und dass es Menschen gibt, die in ihrer „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ verharren, wie es Kant so klar erkannte, oder in sie zurückgeworfen werden. Nicht bloß aus „Faulheit und Feigheit“, wie der Philosoph schrieb – nein, auch aus Lebensangst, schlechten Erfahrungen, Krankheit (z.B. schwerer Depression, Alzheimer), hohem Alter etc. Oder weil sie einfach niemand angeleitet hat, wie sie den „Ausgang aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit“ finden können. Oder weil sie sich dem als Kinder verweigert haben, weil sie damals noch nicht so weit dachten. Oder weil … es gibt so viele mögliche Gründe.
Auch für diese Menschen muss ein liberaler Staat sorgen, wenn er wirklich den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Selbst dann, wenn der Grund tatsächlich „Faulheit“ sein sollte – denn ein Liberaler lässt keinen einzigen Menschen auf der Strecke.
Das als „liberal“ zu bezeichnen, ist eine ziemlich unmodische Sichtweise, nicht wahr? Sie war eigentlich auch nie in Mode. Aber ich schrieb ja schon, dass es hier um Moden nicht geht.

Liberal ist ein Mensch, der das Wort „Toleranz“ nicht wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt („erdulden“, „erleiden“, „zulassen“). Liberal ist es, andere nicht für die Art und Weise zu verurteilen, wie sie ihr Privatleben gestalten möchten. Liberal ist jemand, der andere Menschen so akzeptiert, wie sie sind, solange sie damit kein Verbrechen begehen. Denn liberal ist es, andere mit Achtung und Respekt zu behandeln – und es ist tolerant.

Liberal ist jemand, für den Freiheitsrechte keine Verhandlungsmasse sind. Liberale sind Norweger im Geiste. Sie schreien nach Anschlägen und Verbrechen nicht nach noch mehr Überwachung, sondern rufen laut: „Jetzt erst recht! Wir brechen eine Lanze für eine liberale Gesellschaft!“
„Der Freiheit eine Gasse!“, wie in dem Herwegh-Gedicht (1841).
In diesem Sinne können Liberale durchaus radikal sein.

Liberal ist es, für diese Überzeugungen einzutreten, auch wenn – oder gerade wenn – man damit (momentan) keinen Blumentopf gewinnen kann.

Diese Liste könnte ich noch viel weiter führen. Aber irgendwo muss man ja auch einmal einen Punkt machen.
Nur – wie nennen wir das ganze nun? Bürgerrechtsliberal? Sozialliberal? Linksliberal? Oder: falsch verstandener Liberalismus? Aus meiner subjektiven Sicht richtig verstandener Liberalismus?
Ja, und hier kommt nun die Stelle, an der man mal jemandem, der sich als „liberal“ bezeichnet, mit Fug und Recht Beliebigkeit vorwerfen darf: Das ist mir völlig egal! Für mich ist es einfach nur das: liberal. Ohne präzisierende Attribute. Und wenn ihr mir unbedingt ein Etikett aufkleben müsst – sucht euch eins aus!

Doch eines sollte klar sein: Liberalismus bedeutet nicht „Beliebigkeit“, nicht reines „Laisser-faire“. Liberalismus ist wertegebunden. Und Liberalismus kann ganz schön unbequem sein. Für den, der ihm begegnet – und (gerade vor allem) für den, der ihn vertritt.

Ist das, was ich oben ausgeführt habe, utopisch?
Vielleicht.
Ist es idealistisch?
Na, aber so was von!
Ist es meine Überzeugung?
Auf jeden Fall.

In diesem Sinne: Vielen Dank für alle, die bis hier unten durchgehalten haben! 😉


Kritik der arabischen Vernunft

17. Juli 2010

Vor einiger Zeit fiel mir ein Artikel aus „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) 24/2010 in die Hände: ein Nachruf auf den arabischen Aufklärer Mohammed Abed al-Jabri (1936-2010), der unter anderem auf die philosophische Tradition des andalusischen Philosophen und Juristen Averroes (arabisch: Ibn Rushd, 1126-1198) zurückgreift. Sein Werk ist zudem von der poststrukturalistischen französischen Philosophie beeinflusst, insbesondere von Michel Foucaults (1926-1984) épistème-Konzept. (Episteme sind eine Art epochenspezifischer Vorstellungen, die der Wissensbildung wie ein logisches Unterbewusstsein vorauseilen.)

Für einen Menschen wie mich war der Artikel über al-Jabri hochinteressant:
Ich interessiere mich zum einen für Al Andaluz, das maurische Spanien: Von 711 bis 1492 waren Teile der Iberischen Halbinsel von Muslimen beherrscht. Juden, Christen und Muslime lebten dort lange Zeit weitgehend friedlich beisammen; gleichzeitig erlebte die Iberische Halbinsel eine kulturelle Blütezeit. Bekanntestes Beispiel hierfür ist wohl die Alhambra, ein Festungspalast in Granada:

Alhambra

Zum anderen habe ich ein starkes Interesse an Philosophie und Philosophie- bzw. Ideengeschichte. Dabei liegt einer meiner Interessensschwerpunkte auf der Philosophie der Aufklärung bzw. in der Zeit der Bürgerlichen Revolutionen in Europa. Zunehmend beginne ich auch, mich für die französische (Geschichts-)Philosophie des 20. Jahrhunderts zu interessieren, woran die Englische Literaturwissenschaft und einer meiner Dozenten in Geschichte nicht ganz unschuldig sind.

Al-Jabris vierbändiges Hauptwerk, das – in Anlehnung an Kant – „Die Kritik der arabischen Vernunft“ heißt, soll voraussichtlich dieses Jahr in englischer Übersetzung erscheinen. Auf Deutsch ist bislang eine Einführung erschienen (Mohammed Abed al-Jabri: Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung, Berlin 2009). Drei zentrale Thesen aus diesem Werk sind:

  • Es gibt drei Wissensordnungen, die die Erkenntnis im islamisch geprägten Kulturraum vorstrukturieren: Zum ersten die Wissenschaft der religiösen Auslegung, in der Unbekanntes stets dem bereits Bekannten innerhalb des offenbarten Textes untergeordnet wird (bayan). Zweitens die naturwissenschaftliche Beweisführung, die eine Ableitung aus empirischen Daten ist und deren Pendant im christlichen Europa die Aufklärung und die naturwissenschaftlich geprägte Moderne ausgelöst hat (burhan). Drittens die mystische – und aus al-Jabris Sicht irrationale – Inspiration und Versenkung (irfan). Das zentrale Prinzip in diesen drei Bereichen ist al-Jabri zufolge die Nachahmung. Sie habe zur Stagnation des arabischen Denkens geführt.
  • Die Quellen des Rechts in der arabischen Welt sind der Koran, die Sunna (d.h. das Leben und Vorbild des Propheten Mohammed), der Analogieschluss (qiyas), der Konsens der Gelehrten (jimaa) und die freie Rechtsfindung eines Gelehrten (qiyas).
    In die Zeit des Aufstiegs der abbasidischen Dynastie (749-1258) in Arabien fällt das sogenannte „Zeitalter der Niederschrift“ (asr al-tadwin), in dem die Sunna kodifiziert wurde und die vier wichtigsten Rechtsschulen des Islam entstanden: Hanafiten, Malikiten, Schafiten und Hanbaliten. Mit der Kanonisierung wurde die Möglichkeit der freien Entscheidungsfindung durch Einzelne allerdings zunehmend begrenzt. Grammatik, Recht, Mystik und Rhetorik, insbesondere aber Theologie und Philosophie waren im arabisch-islamischen Kulturraum zudem nie unabhängig von der Politik. Al-Jabri arbeitet nun den ideologischen Anteil von Rechtsfindung, Geschichtsschreibung und Philosophie im Zeitalter der Kanonisierung heraus.
  • Er entwickelt die These, wonach das aristotelische Denken in Al Andalus und Nordafrika durch Ibn Rushd (Averroes) wiedergeboren worden sei. Durch den Averroismus hat laut al-Jabri ein epistemologischer (= „wissenschaftsphilosophischer“ bzw. „erkenntnistheoretischer“) Bruch mit den theoretischen Denkformen stattgefunden, die im muslimischen Orient vorherrschend seien.

Ich würde mich freuen, wenn ich bei dem einen oder anderen Leser dieses kleinen Blogs ein Interesse an der islamisch-arabischen aufklärerischen Philosophie wecken könnte – denn im Gegensatz zur landläufigen „westlichen“ Meinung gab und gibt es islamisches Denken im Geiste der Aufklärung, auch wenn dieses Denken seine Wirkmächtigkeit ironischerweise insbesondere im christlichen Kulturraum entfaltete.

Den einführenden Aufsatz in al-Jabris Denken aus APuZ, den ich eingangs erwähnt habe, kann man sich unter http://www.bpb.de/publikationen/X6OD66,0,Arabische_Welt.html kostenlos als PDF herunterladen oder ihn online lesen.

Weiterführende Links:
http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-469/_nr-1012/i.html (ein Porträt al-Jabris von Sonja Hegasy)
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/972358/ (das Deutschlandradio Kultur zu al-Jabri)
http://begleitschreiben.twoday.net/stories/5710009/ (eher kritische Rezension von Gregor Keuschnig)
http://kritikderarabischenvernunft.wordpress.com (Blog des Philosophen Reginald Grünenberg zur deutschen Ausgabe; Grünenberg lieferte gemeinsam mit Sonja Hegasy das Vorwort für die deutsche Einführung)