Veröffentlicht

Diese Geschichte wurde in der Ausgabe 3/2007 des Magazins „Kurzgeschichten“ (http://www.kurzgeschichten.biz) veröffentlicht.

KurzgeschichtenSie spielt zur Zeit der Aufklärung (französisch „Siècle des Lumières,“ also „Zeitalter des Lichts“ – oder, in präziser Übersetzung, „Zeitalter der Lichter,“ aber das klingt nicht so schön) im vorrevolutionären Frankreich.

Für „Nichtfranzosen:“ Der Titel bedeutet „Frankreich retten.“

Nur noch eine Anmerkung: Mir ist bewusst, dass das Motto der Aufklärung nicht „aus der Nacht in das Licht,“ sondern „durch Nacht zum Licht“ ist. Es war mir aber wichtiger, den Satz auf Delano beziehen zu können, als ihn absolut korrekt wiederzugeben.
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Sauver la France

„Françoise! Wo steckt nur dieses Mädchen?“
Von ferne drang der Ruf an Françoises Ohr. Sie saß mit angezogenen Beinen auf einer hohen Eiche, von der aus sie einen weiten Blick über das Land hatte. Die Holzhütten in der Ferne, von denen der Rauch prasselnder Herdfeuer aufstieg, glichen einem Spielzeugdorf, während das Haus am Waldrand wesentlich größer wirkte. Dieses Haus war im Grunde auch nur eine Holzhütte und nicht viel größer als die Hütten des Dorfes, doch für Françoise war es das Zuhause. Sie sah es nicht mit den Augen eines Fremden, für den jede der Hütten gleich aussehen musste.
Ausgiebig gähnte sie und reckte sich. Sie nahm dabei beide Hände von dem Baum, ohne auch nur für einen winzigen Augenblick zu befürchten, dass sie das Gleichgewicht verlieren und metertief fallen könnte. Dann kletterte sie flink und geschickt zu Boden. Sie hatte die Eiche bereits so oft erklettert, dass sie nicht darüber nachdenken musste, wohin sie Hände und Füße dabei zu setzen hatte.
Die Eile resultierte jedoch nicht nur aus dieser Erfahrung: Es war nicht ratsam, herumzutrödeln, wenn ihre Mutter sie mit ihrem vollständigen Vornamen rief, statt wie gewöhnlich den Spitznamen „France“ zu verwenden.
Kaum hatten ihre Füße den Boden berührt, rannte sie schon mit erstaunlicher Schnelligkeit die kurze Strecke bis zum Hof ihrer Eltern.
„Hier bin ich“, brüllte sie, so laut sie konnte, und bewirkte damit, dass ihre Mutter aus dem Haus zu ihr kam. Die etwa vierzigjährige Frau hatte ihre Haare mit einem Tuch zurückgebunden und trug eine strahlend weiße Schürze über einem braunen Arbeitskleid. Ihr Haar, dessen Ansatz noch zu sehen war, hatte die Farbe goldgelber Ähren, begann an den Schläfen jedoch bereits zu ergrauen. Die Augen waren blau wie ein wolkenloser Sommerhimmel.
Ohne Umschweife brachte sie ihr Anliegen zur Sprache.
„Würdest du deinen Vater bitte zum Essen holen“, fragte sie.
Erst da fiel Françoise auf, wie sehr sich die Sonne schon geneigt hatte und dass sie am Horizont bereits als roter Feuerball zu sinken begann.
„Aber natürlich“, antwortete das Mädchen freundlich.
Sie wusste es zu schätzen, wie höflich ihre Mutter sie um Mithilfe im Haushalt bat, statt sie einfach herumzukommandieren, wie es vielen ihrer Freunde geschah.
Beiläufig bemerkte sie: „Holzfäller scheinen ja in letzter Zeit viel zu tun zu haben.“
Für Außenstehende musste dieser Satz wie eine reine Floskel klingen, doch er diente dazu, ihre Mutter ein wenig zu beruhigen. Diese war jedes Mal, wenn ihr Mann nicht pünktlich zum Abendessen erschien, voller Sorge, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, denn die Arbeit eines Holzfällers war gefährlich. Es passierte immer wieder, dass ein Baum nicht im erwarteten Winkel fiel und einen der Männer, die ihn mit ihren Äxten gefällt hatten, unter sich begrub.
Die Mutter bemühte sich um ein Lächeln. „Dann solltest du dich besser beeilen, damit dein Vater sich nicht überarbeitet“, sagte sie.
Eifrig lief Françoise zu den Bäumen des nahen Mischwaldes, ohne sich einmal umzusehen. Sie liebte es, durch den dichten Wald zu streifen, erhielt jedoch nur in Ausnahmefällen wie diesem die Erlaubnis, alleine tiefer in ihn vorzudringen.
Ihre Eltern machten sich in erster Linie Sorgen um wilde Tiere, die im Dickicht lauern konnten, doch Françoise hatte keine Angst vor ihnen. Wenn man sich nicht zu auffällig verhielt und in der Gegenwart von Tieren keine schnellen Bewegungen machte, konnte einem wenig passieren.
Ihre größte Sorge waren Gefahren, die von ganz anderer Seite drohten.
Gefahren menschlicher Art.
Es war schon öfters vorgekommen, dass man im Wald Gruppen von Fremden gesehen hatte. Vielleicht waren es nur Reisende, die sich nicht alleine ins Dickicht wagten, doch vielleicht – und dies befürchtete Françoise – handelte es sich dabei auch um Räuber.
Nicht, dass sie irgendeinen wertvollen Gegenstand besessen hätte, um den sie sich sorgen müsste. Doch sie war trotz aller körperlichen Stärke immer noch ein Mädchen, und gegen eine Überzahl an Männern hatte sie keine Chance…
Dieser Gedanke gefiel ihr ganz und gar nicht. Schnell schüttelte sie ihn ab.
Nachdem sie ein Stück gegangen war, blieb sie stehen, um danach zu lauschen, ob sie das typische Geräusch von Äxten, das sie in der Ferne erwartete, bereits hören konnte.
Doch was sie hörte, waren andere Geräusche, die sie erstarren ließen.
Erst ein auffälliges Rascheln. Dann ein Knacken, gefolgt von einem verärgerten Aufschrei.
Räuber, dachte sie in Panik.
Ohne nachzudenken hastete sie zu einem Baum.
Die Kletterbewegungen führte ihr Körper automatisch aus, jedoch zitternd und fahrig. Dann glitt ihre rechte Hand aus. Schnell tastete sie nach einem neuen Halt.
Da, eine Vertiefung!
Ihr Instinkt ließ sie zugreifen. Gleichzeitig schickte ihr Verstand eine Warnung, doch sie konnte nicht mehr in der Bewegung innehalten.
Sie sah das Eichhörnchen, als es seine Zähne in ihren kleinen Finger schlug. Es wollte seine Behausung gegen den vermeintlichen Eindringling verteidigen.
Erschrocken schrie Françoise auf.
Dann hatte sie ihren Halt endgültig verloren.
Sie fiel.
Das ist mir ja noch nie passiert, dachte sie noch im Sturz. Ich bin doch noch nie von einem Baum gefallen…
Dann wurde es dunkel um sie.

Langsam blinzelte Françoise.
Was war geschehen? Alles war so verschwommen…
Dann erinnerte sie sich schlagartig. Die Räuber! Entsetzt riss sie die Augen auf.
Doch sie hörte die sanfte, wohlklingende Stimme eines jungen Mannes.
„Da bist du ja wieder“, sprach er aufatmend. „Du hast nur eine Verstauchung am linken Knöchel und eine Bisswunde am Finger, aber deine Bewusstlosigkeit machte mir zu schaffen.“
„Woher…“ Sie brach ab, um sich zu räuspern, da ihre Stimme auf einmal sehr piepsig klang. „Woher wisst Ihr das so genau?“
„Ich bin Arzt und auf der Reise nach Paris, wo man mir eine Stellung angeboten hat“, erklärte er. Dann fiel ihm etwas ein. „Bitte um Verzeihung, mich noch nicht vorgestellt zu haben“, fügte er hinzu. „Ich bin Delano.“
„Aus der Nacht?“ Nun musterte Françoise ihn genauer.
Sein Haar war schwarz, die Augen dunkel. Im Kontrast dazu stand seine helle Haut. Er war in einen grauen, etwas staubigen Reisemantel gekleidet und trug einen dunkelgrünen Hut.
Zwischen zwanzig und dreißig, schätzte Françoise. Gut aussehend.
„Der Name passt zu Euch“, sagte sie laut. Dann stellte sie sich selbst vor: „Ich heiße Françoise und stamme aus einer Holzfällerfamilie, die hier in der Nähe wohnt. Meistens werde ich aber France genannt.“
„Dann habe ich ja Frankreich gerettet“, rief Delano vergnügt. „Kann Frankreich denn aufstehen?“
Françoise ahnte, dass sein Wortspiel eine hintersinnige Bedeutung hatte. Trotzdem bemühte sie sich auf die Beine zu kommen.
Schließlich hatte sie es geschafft, konnte aber nur humpeln.
„Der Knöchel“, stellte Delano mitfühlend fest. „Moment, ich hebe dich auf mein Pferd und bringe dich nach Hause.“
Erst da bemerkte Françoise den Rappen, dessen Zügel locker über den Ast eines Baumes gelegt waren. Freundlich schnaubend ließ er es zu, dass Delano Françoise auf seinen Rücken hob.
Der Arzt nahm die Zügel in die Hand und schnalzte mit der Zunge, worauf das Pferd gemütlich hinter ihm hertrottete.
„Gaspard ist ein ganz Lieber“, erklärte Delano, der ein ungeheueres Redebedürfnis zu haben schien. „Nicht mehr der Allerjüngste, aber dafür treu und zuverlässig.“
„Reitet Ihr denn ganz alleine“, erkundigte sich Françoise. „Ist das nicht gefährlich?“
„Ja“, antwortete er und bezog sich dabei offenbar nur auf die erste Frage. „Alleine kann ich besser nachdenken. Außerdem ist mein Weg nicht allzu weit.“
Wie gefährlich etwas war, schien ihn nicht zu interessieren.
Unvermittelt sagte Delano: „Mein Name bedeutet in meinen Augen nicht nur aus der Nacht, er will uns auch sagen, dass wir uns auf dem Weg aus der Nacht in das Licht befinden. Schließlich leben wir im Zeitalter des Lichts.“ Dann setzte er hinzu: „Weißt du, was das bedeutet, Zeitalter des Lichts?“
„Nein“, gab Françoise zu. „Ich weiß nur, dass es jetzt so dunkel ist, dass wir tatsächlich auf dem Weg durch die Nacht sind.“
Dies war für Delano der Ansporn, ihr einen regelrechten Vortrag zu halten, während sie ihn zu ihrem Heim lotste.
Staunend lauschte sie den Gedanken von Freiheit und Demokratie, von Menschen- und Bürgerrechten, Toleranz und Geistesfreiheit. Über dieser Vision schwebte Delanos Wunsch, selbst etwas zur Verwirklichung seiner Träume beizutragen.

Auch als Delano sie schon längst wieder zu ihren Eltern, die nach der Rückkehr ihres Vaters in großer Sorge über ihr Verschwinden und dann unendlich erleichtert gewesen waren, gebracht und sich wieder auf seinen Weg aus der Nacht in das Licht gemacht hatte, dachte Françoise noch oft über ihn und seine Worte nach. Sie fragte sich, was aus seinen Idealen werden würde.
Würde sie Delano je wiedersehen?

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